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WALTER JENS – Universalgelehrter

Text: HEDunckel






Intellektuelle müssen sich einmischen und warnen. Wenn das Fleisch vom Grill zäh ist, der Fisch aus der Pfanne nach Kloake schmeckt und die Kartoffeln aus dem Topf weder Aroma noch Konsistenz haben, dann könnte dem Koch eine Schuld zugewiesen werden: Weniger für die schlechte Zubereitung, als für einen mangelhaften Einkauf. Was aber, wenn der Koch sich persönlich nach bestem Wissen und Gewissen um einen optimalen Einkauf bemüht hat, doch das Material nicht den Erwartungen entsprechen konnte? - Was, wenn der Mensch tatsächlich nicht allein vom Essen und Trinken lebt? - Was, wenn seine Information, ganz so wie die Nahrung auf dem Markt, derart kontaminiert ist, dass jede Konklusion – jedes Gericht – nur zäh, geschmacklos und ohne Konsistenz auf den Tisch kommen kann? - Kommunikative Defizite zeigen sich unausweichlich in ihren suboptimalen Resultaten. Schon Sokrates versuchte niemandem einen „HUMMER“ als parkfreudiges und im Verbrauch sparsames Stadtauto zu verkaufen, oder gar einen „SMART“ als potentes Schlachtross zu verhökern. Er machte im Gegenteil darauf aufmerksam, dass Analogien, mit zweifelhaften Bezügen oder aus kontaminierten Quellen, sich auch dann nicht zur sinnreichen Speisung veredeln lassen, wenn sie, so bereits im Sinn verarmt und schwach, als „alternativlose“ Rezepte verschrieben werden sollen. Die Rezepte sind so gut wie ihre Küche. Die Küche ist immer nur so gut wie ihr Einkauf, und der Markt so gut wie seine Produkte. Was heute jedoch medial zu Markte getragen wird, ist auf tragische Weise meist schon im Vorfeld mit Makel belegt. Doch: Ohne wahre Zutaten kann niemand auch nur annähernd Wahrheiten zu- oder aufbereiten.

Walter Jens (* 8. März 1923 in Hamburg; † 9.Juni 2013 in Tübingen) sagte oftmals: „Ohne Utopie – also, ohne einen Blick auf das Besser Mögliche gegenüber dem Schlecht Bestehenden - könnte ich nicht leben.“ - Als „radikaler Demokrat“ bezog er sich auf die Verfassung der Französischen Republik vom 24. Juni 1793 (Sommersonnenwende - Sant Joan Baptista – Neujahrsfest der Freimaurer). Sie beginnt mit einer Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte: „Das französische Volk hat in der Überzeugung, dass Vergessen und Verachtung der natürlichen Menschenrechte die einzigen Ursachen des Unglücks in der Welt sind, sich entschlossen, in einer feierlichen Erklärung diese heiligen und unveräußerlichen Rechte darzulegen, damit alle Bürger ständig die Handlungen der Regierung mit dem Ziel jeder gesellschaftlichen Einrichtung vergleichen können und sich daher niemals durch die Tyrannei unterdrücken und entehren lassen; damit das Volk immer die Grundlagen seiner Freiheit und seines Glückes, die Obrigkeit den Maßstab ihrer Pflichten, der Gesetzgeber den Gegenstand seiner Aufgaben vor Augen haben.“ - Jens fand seinen Bezugspunkt zur radikalen Demokratie - wo das Volk (demos) die Wurzel (radix) aller Kraft (kratos), und so auch von Bewegung und Wandel in der jeweiligen Gesellschaft ist – im Artikel 34 dieser elementaren Konstitution:Unterdrückung der Gesamtheit der Gesellschaft ist es, wenn auch nur eines ihrer Glieder unterdrückt wird; Unterdrückung jedes einzelnen Gliedes ist es, wenn die Gesamtheit der Gesellschaft unterdrückt wird.“ - Wie weit haben wir uns heute, gerade einmal exakt 220 Jahre später, von diesen Idealen entfernt? - Uns an Utopien von der Macht des Menschen über den Menschen orientiert? - Die anstelle von Wurzeln - expandierende Banken, anstelle von Kraft - durch atomaren Verfall betriebene Reaktoren und anstelle des Volkes - politische Marionetten positioniert haben? - Nur das Unglück in der Welt zu mehren wussten?

Beim Studium von Germanistik und Klassischer Philologie hörte er in Freiburg unter anderem Martin Heidegger vom In-Der-Welt-Sein und von „Sein und Zeit“ sprechen. Der bezog sich auf G.W.F. Hegel: „Die Weltgeschichte ist also überhaupt die Auslegung des Geistes in der Zeit, wie sich im Raum die Idee als Natur auslegt.“ Prägend für die Entwicklung der eigenen, geistigen Dimension wirkte aber offensichtlich seine Arbeit über die sophokleische Tragödie, mit der er 1944 promovierte – über eine Sprache kühner Gewalt, in ihrer „ungetrübten Verbindung des Plastisch-Bildhaften der Worte mit dem musikalischen Urelement des Rhythmus“. Ein ausgewogenes Verhältnis von Gestern und Heute offenbarte ihm fortan das Wesen der Gegenwart präsenter, als es ausschließlich aktuelle Informationen können, die, nur auf sich selbst bezogen und in ärmeren Kontexten verhalten, sich nicht in den großen Zusammenhängen universellen Wissens zu entfalten vermögen. Er hatte erkannt: Nicht nur das stete Wort höhlt den Schein, sondern erst eine optimale Auswahl von Bezügen enthüllt den eigentlichen Sinn. „Es tilgt sich vermessenes Wort in unermesslichem Schicksalsschlag“ - hören wir den Chor in den Endversen der „Antigone“ ... und: „Von allen Glücksgaben ist Einsicht ins Recht die Erste.“ - Doch wurden wir vorher bereits gewarnt: „Ungeheuer ist vieles, und nichts ist ungeheuerlicher als der Mensch.“ - Was bei einem leichtfertigen Blick auf die Antike meist als „Religion“ heutiger Norm interpretiert wird, meinte ursprünglich mit dem „Göttlichen“ die Macht des selbigen Seins in seiner ausnahmslosen Ganzheit und der unbedingten Einheit in einer verborgenen Ordnung. Heute wissen wir, dass es sich um „Wholeness and the implicate order“ handelt (David Bohm), wo Alle mit Allem und Jedes mit jedem derart verbunden ist, dass eine Störung dieser Ordnung, auch an einer vermeintlich unbedeutenden Stelle, sich auf die Ordnung im gesamten Universum verhängnisvoll auszuwirken vermag (Konrad Lorenz). In dem totalen Weltbild des Sophokles erkannte Walter Jens den ebenso totalen Zusammenhang aller Lebensschichten und die einzige Wahrscheinlich, unseren Herausforderungen auf transdisziplinärer Ebene zu begegnen. Dieser universelle Zusammenhang war in der Antike als religiöser Zustand zum Gesetz des Kosmos geworden, das ohne Rücksicht auf Gerechte und Ungerechte waltet und sich einzig mittels der in ihm selbst ruhenden Schwerkraft bewegt. Von hier aus waren auch bereits die Bemühungen um eine Vernunft angelegt, die nur als klassische Tugend ihre Gültigkeit erlangen kann: Vom Einzelnen im Jetzt in einen Bereich des Ganzen auf Dauer.

Als Meister der gesprochen Rede, versuchte Walter Jens zeitlebens, in seinen Wort- und Sinn-Kompositionen voller dramaturgischer Stringenz und Dynamik, den Zuhörer aus seinem Täglich-Allzu-Täglichen in einen performativen Raum anderer Dimension zu entführen. Er wusste genau, was er tat: Als „Architekt am Prinzip Weisheit“ waren seine Worte die Materialien, Werkzeuge und Waffen, mit denen er sich um optimale Lebensbedingungen auf einem Planeten bemühte. Seine Publikationen zur Literatur, zur Antike und zur Religion sind umfangreich. Seine Kommentare und öffentlichen Auftritte zu seinerzeit aktuellen politischen Themen waren markant, ebenso wie seine vielseitigen kritischen Texte zu Kunst, Literatur und Fernsehen. Er sei kein Meister im Einzelkampf, sondern im Zehnkampf, hatte Jens einmal verlautbart. Das macht den Universalgelehrten aus: Ein schon von Aristoteles empfohlenes Gleichgewicht von intuitiver Intelligenz und intelligenter Intuition. Während also der Universalgelehrte gelassen, doch unbefangen in den Alltäglichkeiten der Welten wandelt, tanzt ein Reigen universeller Leere wie Fülle in seinem Geiste. Aus seinen Spuren lässt sich ebenso viel erlesen, wie sie okkult zu halten wissen: Er ist der in die Natur der Dinge und Weisen Eingeborene – ein involvierter Intermediant. Er handelt, um das Besser Mögliche gegenüber dem Schlecht Bestehenden zu fördern: Damit das Volk nicht die Grundlagen seiner Freiheit und seines Glückes, die Obrigkeit nicht den Maßstab ihrer Pflichten, und der Gesetzgeber nicht den Gegenstand seiner Aufgaben aus den Augen verliert. Ich bin der Meinung, dass unsere Gegenwart in weiterer Zukunft – schneller als erwartet, mit großer Wahrscheinlichkeit und erschreckender Nachhaltigkeit – als DIE TRAGÖDIE schlechthin enden könnte, wenn Walter Jens als letzter seiner Art dahingeschieden wäre.

Holger E. Dunckel

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