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Unterm Kirchturm

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Andreas Kaplan, 26, ist Restaurantfachmann im Drei-Sterne-Restaurant Bareiss in Baiersbronn (etwa 15.000 Einwohner).
Ich stamme aus Windhoek, der Hauptstadt von Namibia. Es war schon immer mein Traum, in die Gastronomie zu gehen. Die Lehre hätte ich sehr gern auch in Südafrika gemacht, weil das nur einen Katzensprung von Namibia entfernt ist. Aber die europäische Gastronomie ist nun mal immer noch unerreicht. Deshalb bin ich im April 2009 für meine Ausbildung zum Restaurantfachmann im Hotel Bareiss in den Schwarzwald gegangen. Baiersbronn ist eine sehr ländliche, idyllische Kleinstadt, die aber gut angebunden ist. Man ist nicht total ab vom Schuss hier. Für uns junge Leute ist es allerdings schon ein bisschen schwierig. Stuttgart ist die nächste Möglichkeit und liegt mit dem Auto gut eine Stunde entfernt. Wobei die Arbeitszeiten in der Gastronomie ohnehin so sind, dass man die Angebote, wenn sie denn da wären, wahrscheinlich gar nicht richtig wahrnehmen könnte. An meinen fünf Arbeitstagen konzentriere ich mich darauf, bestmögliche Leistung zu bringen und fit zu sein. Für viel mehr ist kein Platz, weil der Job sehr anspruchsvoll ist. An den freien Tagen fahre ich dann auch mal aus dem Schwarzwald raus, zum Beispiel nach Frankfurt.
Wenn ich dableibe, habe ich die Möglichkeit, im Hotel Bareiss die Sportangebote kostenlos zu nutzen. Vor drei Jahren wurde in Baiersbronn mit großer Unterstützung des Hotels ein Freizeitbad eröffnet, zu dem wir Mitarbeiter freien Eintritt haben. Insgesamt kann ich das Arbeiten in der Provinz nur empfehlen. Ich denke, dass man in einer Großstadt sehr viel abgelenkter von der Arbeit ist, wenn man nicht absolut diszipliniert ist. Bei mir war es auf jeden Fall so, dass ich mich automatisch mehr auf meine Lehre konzentriert habe — weil ich ein bisschen ab vom Schuss war.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Sibel Philipp, 35, arbeitet als Assistentin des Technikvorstands beim Messgerätehersteller Testo in Titisee-Neustadt (etwa 12.000 Einwohner).
Bevor ich hier angefangen habe, bin ich auf dem Weg in meine Heimat Freiburg häufiger an dem Neubau von Testo in Titisee vorbeigefahren. Je größer das Gebäude wurde, desto größer wurde mein Interesse. Irgendwann habe ich dann beschlossen, im Internet endlich nachzuschauen, was Testo macht. In der Rubrik Recruiting stand: „Vorstandsassistenz gesucht“. Ich wusste sofort, dass ich mich da bewerben muss, weil die Jobbeschreibung und das Unternehmen gut klangen. Der ganze Rest erschien mir unwichtig.
Nach der Zusage bin ich für den Übergang nach Freiburg gezogen und nach drei Monaten in eine Wohnung nach Kirchzarten, eine sehr süße Gemeinde. Klar ist das kleiner als Stuttgart. Aber wenn ich nach der Arbeit nach Hause komme und die Tür hinter mir zumache und auf den Balkon rausgehe, dann höre ich allerhöchstens mal die Kirchturmglocken. Wenn ich Action haben möchte, steige ich ins Auto und bin in fünfzehn Minuten in Freiburg. Früher, in Stuttgart, bin ich morgens um sieben Uhr aus dem Haus und in die S-Bahn gestiegen — und war eine Dreiviertelstunde später ziemlich entnervt bei meinem damaligen Arbeitgeber. Ich habe im Vergleich vor allem an Lebensqualität da-
zugewonnen. Wir haben hier eine wunderschöne Umgebung, die sich auch auf den Geist auswirkt. Ich finde es schön, mich morgens ins Auto zu setzen und zwanzig Minuten durch den Schwarzwald zu fahren, wo andere Leute Urlaub machen. Deshalb brauche ich auch keine Ausgleichsangebote meines Unternehmens. Aber natürlich gibt es Angebote von Testo für die Mitarbeiter. Wir haben zum Beispiel drei Fitnesstrainer, es gibt eine Masseurin. Mich nervt am Landleben gar nichts, wahrscheinlich, weil ich das Beste aus beiden Welten habe. Und ich würde auch sagen, dass ich hier definitiv angekommen bin und eine langfristige Perspektive für mich sehe.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Stefan Grimm, 32, ist Marketingmanager bei Phoenix Contact (Automatisierungstechnik) in Blomberg (etwa 16.000 Einwohner).
Als ich das erste Mal nach Blomberg zum Vorstellungsgespräch gefahren bin, schickte mich das Navi von der Autobahn runter und mehr als eine halbe Stunde durch den Wald. Ich kannte das gar nicht — dass die Autobahn so weit weg ist und so viel Wald um einen herum. Ich komme aus Stuttgart, wo ich eine Ausbildung als Industrieelektroniker bei Bosch gemacht habe. Danach habe ich in Karlsruhe Technische Redaktion Richtung Marketing und PR studiert, ein Semester war ich in New York City. Blomberg ist das komplette Gegenteil. Ein kleiner Ort, eingekreist von der Weser und dem Teutoburger Wald, mit alten, gepflegten Fachwerkhäusern. Eine Kneipe mehr, ein Kino oder ein Club, das wäre natürlich schön, das gibt es erst im nächsten Ort, in Detmold, ungefähr zwanzig Kilometer entfernt, wo ich inzwischen auch wohne. In Detmold gibt es auch eine Hochschule, und das Nachtleben ist besser.
Dafür habe ich in Blomberg nach Jahren wieder mit dem Bogenschießen begonnen, im Verein, um Kontakt zu den Einwohnern zu knüpfen. Im Sommer haben wir zusammen gegrillt, wir laden uns zu den Geburtstagsfeiern ein, und als ich nach Detmold gezogen bin, haben mir sofort mehrere geholfen und ihre Anhänger und Transporter mitgebracht. Das wäre in der Stadt nicht passiert. Ich habe wieder mit dem Fotografieren angefangen, und es gibt ein firmeneigenes Fitnessstudio; manchmal verabrede ich mich mit Kollegen für eine Fahrradtour.
Ich habe es bisher keinen Moment bereut, dass ich für den Job nach Blomberg gekommen bin. Wenn man aber gar nichts mit der Natur anfangen kann oder keinen Sport mag, passt man nicht hierher. Früher bin ich häufiger nach Hause gefahren, jetzt nur noch alle zwei bis drei Monate, weil ich hier auch viele Freunde gefunden habe. An eines habe ich mich auf dem Land aber noch nicht gewöhnt: In den ersten zwei Monaten bin ich gleich dreimal geblitzt worden.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Vivien Vogt, 32, arbeitet im Vertrieb des Müsliproduzenten mymuesli in Passau (etwa 50.000 Einwohner).
Mein erster Eindruck von Passau war miserabel: Nieselregen, keine Sicht, wohin man auch blickte. Über der ganzen Stadt hing eine deprimierende Stimmung. Erst eine Drei-flüsserundfahrt bei Sonnenschein während meines zweiten Besuchs und ein gutes Angebot von mymuesli gaben den Ausschlag. Kein halbes Jahr später packte ich meine Umzugskartons für die Provinz. Die richtige Entscheidung, wie sich schnell zeigte. Ich verliebte mich in die historische Stadt mit ihren verwinkelten Gassen, mit den drei Flüssen Donau, Inn und Ilz. Und dann gibt es natürlich noch die genialen Ausflugsmöglichkeiten ins Umland. Für mich als Naturmenschen und leidenschaftliche Jägerin ein Eldorado.
Wenn ich am Wochenende nicht im Wald unterwegs bin, versuche ich mit Freunden der schlechten Clublandschaft etwas abzugewinnen. Obwohl Passau eine Studentenstadt ist, fehlen eine vernünftige Weggehkultur und eine differenzierte und kreative Musikszene. Dafür muss ich schon nach München fahren. Aber trotz dieser Nachteile bereue ich meinen Entschluss keinen Tag — was nicht zuletzt an meinem Job liegt, an der guten Arbeitskultur und an dem motivierten jungen Team. Wenn ich doch mal ins Grübeln gerate, besucht mich meist schon wieder einer meiner Freunde von früher und beneidet mich um meine neue Heimat.



Text: christina-waechter - und Kathrin Hollmer; Illustrationen: Ralf Nietmann

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