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Eine Frage der Integration

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So vielleicht nach zehn Jahren mit U-Bahn-Monatskarte kommt das urbane Leben in eine Häutungsphase. Das ist ganz normal. Man lebt dann zwar noch in der Stadt, aber wenn man Altersgenossen trifft, redet man irgendwann übers Land. Das hängt mit einem tief verankerten Wahn zusammen, wonach ein eventuell demnächst zu zeugendes Kind lieber im Grünen aufwachsen soll oder das eventuell demnächst zu erwerbende Eigentum mehr Spaß macht, wenn man für sein Geld ein ganzes Gehöft bekommt und nicht nur eineinhalb Zimmer Souterrainwohnung. Billiger, ökologischer, schöner – das Leben weit jenseits der Stadtgrenzen sieht in dieser etwas labilen Häutungsphase des Städters schnell aus wie ein Arkadien mit Gummistiefeln. Wie mit den meisten Sehnsüchten ist es, wenn man mal wirklich dort angelangt ist, aber doch ganz anders. Viele, die in der Feierabend-U-Bahn davon schwärmen, werden das niemals erfahren, weil auf die Häutungsphase – wenn überhaupt – nur ein Kompromiss mit S-Bahn-Anschluss folgt. Und wo die S-Bahn noch hinfährt, ist nicht das richtige Land. Das kann ich sagen, denn ich bin zwar einst in den dritten Stock einer städtischen Mietwohnung hineingeboren worden, verbringe mittlerweile aber ein paar Monate des Jahres in einem Dorf, in dem die Telefonnummern dreistellig sind. Hat sich zufällig so ergeben. Es ist richtiges Land, ohne Bahnhof, ohne schnelles Netz, aber mit durchaus interessanter Infrastruktur. Zumindest wenn man sich für konventionelle Landwirtschaft interessiert. Schön ist es da, es gibt das ganze Zeug, von dem man so liest, ja auch wirklich: Morgennebel zwischen Apfelbäumen, Tautropfen an Spinnennetzen, die gute Luft und Böllerschützen. Aber das alles gibt es nur scheinbar for free. Das Dorf will auch was dafür.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Das Dorf will deine Geheimnisse.
Ein großer Vorteil der Stadt ist ihr Schluckreflex. Sie verschluckt ihre Bewohner, die Namen, die Gesichter. Der Grundzustand dort ist: Es kann jeder machen, was er will, morgen kommt die Straßenreinigung und kehrt alles unter den Asphalt. Diese Anonymität der Großstädter wird gern beklagt, aber das Gegenteil ist mindestens genauso beklagenswert: die Öffentlichkeit der Dorfbewohner. Alles, was du tust, wird bemerkt. Auch das, was du nicht tust. Wenn du einen schlechten Tag hast und an dem nicht vor die Tür gehst, fällt das auf. Wenn Freunde anderen Geschlechts über Nacht bleiben, wird gefragt. Ob das Gras zu lang, die Hose zu kurz, die leeren Weinflaschen zu viele – alles wird bemerkt, alles muss erklärt werden. Das ist gar nicht böse gemeint, man ist nur eben auf einmal Teil einer Gemeinschaft, in der sich die meisten schon das ganze Leben lang kennen, und bekommt bald die gleiche Aufmerksamkeit. Meistens sogar noch mehr, weil man neu ist. Und vergessen wird nichts, zumindest die ersten vierzig Jahre lang. Was dazu führt, dass sich durch das ganze Dorf unsichtbare Fehden ziehen, in die man sich prima verwickeln kann.

Das Dorf will keinen Input.
Sicher, du kannst mit deinen Hunter-Gummistiefeln, dem französischen Kastanienzaun, dem hölzernen Badezuber und dem Biogarten ankommen. Das Dorf wird dich diese Landrequisiten für Städter ausbreiten lassen und so nett sein, dich nicht direkt dafür auszulachen. Sie werden es einfach nicht erkennen. Die Anbiederung via Manufactum-Katalog geht ins Leere, das ist für sie genau das Spielzeug, das es ist. Das gab es hier noch nie, genau wie Romantik oder Großmutters geheimes Marmeladenrezept. Das Schlimmste wäre: gleich Lokalrunden schmeißen oder anregen, einen Dorfladen zu eröffnen. Das klappt erst nach ein paar Jahren und wenn noch mindestens dreißig Prozent mehr Zugezogene im Dorf leben, die dann im Dorfladen einkaufen. Den Hauruck-Pitch-Enthusiasmus aus den Konferenzen und Partizipationsgremien der Stadt kann man hier nicht abrufen. Gut so. Wenn du wirklich Eindruck schinden wirst, bleib bei deinen Stadtgewohnheiten, trag Pappbecher voll Kaffee über den Friedhof, und geh mit Kopfhörern joggen. Das ist für alle leichter zu verkraften.

Das Dorf verlangt Entscheidung.
Da sollte man sich nichts vormachen: Für Unentschlossene und Ausprobierer ist die Stadt der richtige Spielplatz, wo es alles jederzeit gibt und jede Fehlentscheidung oder Orientierungslosigkeit unbemerkt bleibt. Wer auf das richtig weite Land zieht, braucht eine solide Lebensführung und vor allem die Überzeugung, mit dem eingeschlagenen Weg glücklich zu werden. Wechselwähler, Langschläfer, Schnupperkurse, kostenlose Testversionen – das wurde alles nicht für die Provinz erfunden. Wenn der nächste Supermarkt fünfzehn Kilometer Landstraße entfernt ist, sollte man eine gewisse Haushaltsplanung hinkriegen. Unsicherheit im Angesicht von Tieren und rangierenden Landmaschinen ist genauso hinderlich wie eine nicht abgeschlossene Partnersuche. Man kann davon ausgehen, dass alle, die noch im Dorf leben, in ihrer eigenen kleinen Trutzburg aufgehen. Bist du gläubig? Willst du dich wirklich in der kommunalpolitischen Minderheit aufreiben? Gibst du den Heiligen Drei Königen Geld oder Süßigkeiten, wenn sie an die Tür klopfen? Auf diese Fragen sollte man Antworten haben, bevor man das süße Ungefähre der Metropole verlässt.

Das Dorf will dich.
Es gibt Vereine. Es gibt die Kirche. Es gibt den Stammtisch. Das sind die Gelegenheiten, bei denen man hier zusammenkommt, das ganze Leben lang, und am Schluss stehen alle deine Vereine um dein Grab und sorgen dafür, dass du eine schöne Leich wirst. Das wird dir in der Stadt nie passieren. Es sind also ziemlich wichtige Institutionen gegen die Einsamkeit. Wer dabei ist, wird überhaupt erst wahrgenommen. Wer mithilft, den Maibaum aufzustellen, und seinen Osterkorb weihen lässt, ist beinahe drin, im Dorf. Jegliche Dünkelhaftigkeit gegen Vereine – von wegen Brutstätte des Dumpfsinns oder so – ist also sofort mit dem Umzug aufs Land abzulegen. Die Vereine sind da, und wenn du auch da sein willst, solltest du zumindest einmal irgendwo beitreten. Ist gar nicht so übel.

Text: fabian-fuchs - Foto: Uwe Jens Bermeitinger

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