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Wenn gar nichts passen kann

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Es ist Anprobe. Lisa Polk nestelt an einem Hemdkragen herum. In dem Hemd steckt ihr Model Jimmy und ist ungeduldig. Jimmy hat Trisomie 21. Er ist nicht die Zielgruppe, für die Designer normalerweise ihre Kollektionen entwerfen. Für Lisa Polk, 28, und Christian Schinnerl, 23, schon. Die zwei jungen Designer aus München haben eben ihre Ausbildung an der Meisterschule für Mode abgeschlossen und diese Woche eine Hemdenkollektion vorgestellt, die auch Menschen mit Trisomie 21 passt. Sie suchen nur noch einen Partner für die Serienproduktion.

Lisa und Jimmy bei der Anprobe.

Christian kennt die Probleme, die Menschen mit Down-Syndrom beim Kleiderkauf haben. Für seinen Onkel schneidert er schon länger die Hemden. 50.000 Menschen mit Trisomie 21 leben in Deutschland, 50.000 Menschen, denen die Oberteile, die es im Handel zu kaufen gibt, nicht richtig passen, weil die Krägen zu eng und die Ärmel und die Hemden insgesamt zu lang sind. Auf den Körperbau von Menschen mit Down-Syndrom wirklich eingehen kann man bisher nur mit Maßanfertigungen. Aber die sind teuer. Darum heißt Lisas und Christians Kollektion: Hemdless. 

Im Betreuungszentrum Steinhöring bei München, in dem Lisas Mutter arbeitete, haben sie auch mit Maßnehmen begonnen. Neben der Passform war Lisa und Christian auch der Design-Aspekt wichtig. „Kleidung für Menschen mit Behinderung ist sonst nur funktional, mit Gummizug und optisch mau“, sagt Lisa. Fünf Heimbewohner mit Trisomie 21 standen Modell für sie. Die Erkenntnisse aus den Anproben, den größeren Halsausschnitt, die kürzeren Ärmel und die Knöpfe, die nicht zu klein sein dürfen, damit man sie auch mit eingeschränkten motorischen Fähigkeiten zubekommt, haben sie in einem sechsten Hemd vereint, einem Prototypen, der für Menschen mit und ohne Trisomie 21 gedacht ist. Das nennt sich „Inklusives Design“. 

Nur wenige Firmen stellen Kleidung für Menschen mit Behinderung her. Dabei ist der Markt ziemlich groß. Die Zahl der Rollstuhlfahrer in Deutschland wird auf etwa 1,5 Millionen geschätzt, wobei nicht alle ständig auf ihn angewiesen sind. Es gibt etablierte Shops und Labels für Rollstuhlfahrer, Rolli-Moden, Rollitex und Rollingelephants zum Beispiel. Und immer wieder entschließen sich Designer, inklusives Design, für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung, zu entwerfen. Zum Beispiel Angela Tönnies aus Niedersachsen und Christine Wolf aus Berlin. Noch ist es aber nur eine Handvoll. So eine kleine Handvoll, dass man, wenn man nach „Inklusive Mode“ googelt, stattdessen die Suchergebnisse für „Exklusive Mode“ angezeigt bekommt. Wie die Bedeutung seines lateinischen Ursprungsworts excludere sagt: Es schließt aus.

Auch die Oldenburger Designerin Vivien Schlüter, 34, entwirft inklusive Mode. Bei ihrer ersten Modenschau 2004 in Oldenburg wurde sie von einer Frau im Rollstuhl gefragt, ob sie nicht Mode für Menschen mit Behinderung entwerfen könne. Es hat ein bisschen gedauert, aber 2012 präsentierte Vivien ihre erste Kollektion für Rollstuhlfahrerinnen beim Modedesignwettbewerb „Bezgraniz Couture“ (dt.: ohne Grenzen) in Moskau und schaffte es unter die zehn Finalisten. Ein Signal, weiterzumachen, und zwar unter dem Label Klash Kouture.

„Wenn man den ganzen Tag sitzt, hat man andere Bedürfnisse an seine Kleidung“, erklärt Vivien. Man braucht Bewegungsfreiheit, also müssen die Ärmelausschnitte weit sein. Wenn die Hosen am Becken weiter geschnitten sind, ist es bequemer. Die Röcke sind an den Seiten abgeschrägt, damit sie nicht in die Speichen kommen. „Und die Kleider sind in der Länge verstellbar, weil manche wegen des Muskelabbaus ihre Beine nicht zeigen wollen“, sagt Vivien. Um sich in ihre Kunden hineinzudenken, setzt sie sich zwischendurch immer wieder hin und probiert aus, wie es ist, wenn man nur den Oberkörper bewegen kann. Ihr Einfühlungsvermögen spricht sich herum. Jede Woche bekommt sie mehr Anfragen, gerade arbeitet sie an einer Hose für ihren ersten männlichen Kunden. Die Arbeit ist aber auch anstrengend. „Ich werde nun oft mit schweren Schicksalen konfrontiert, aber wenn ich dann sehe, wie glücklich meine Kleidung macht, dann habe ich das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben“, sagt Vivien. 

Eines von Viviens Models auf ihrer Show beim „Bezgraniz Couture“ in Moskau.

Trotzdem bleibt immer die Frage, auch bei der „Alter Fashion Week“ in Gruchet-Le-Valass in Frankreich, eine Modewoche, die sich nur um Kleidung für „Menschen mit Handicap“ dreht: Grenzt eine spezielle Mode Menschen mit Behinderung nicht auch wieder aus? „Ich habe viel darüber nachgedacht“, sagt Vivien, „Menschen mit Behinderung haben – körperlich – andere Bedürfnisse, sie sollten aber die gleichen Möglichkeiten haben wie Menschen ohne. Ich bin der Meinung, dass sich nicht die Menschen der Mode, sondern die Mode den Menschen anpassen muss, genauso wie sich kein Mädchen runterhungern sollte, um in Skinny Jeans Größe 34 reinzupassen.“ Ihre Entwürfe versteht sie so, dass sie Menschen im und ohne Rollstuhl tragen können. „Bei dem Wettbewerb in Moskau war ein Model mit Beinprothese dabei, das hat wunderbar funktioniert. Für Menschen, die gehen können, sind die Besonderheiten in meinem Design, die weiten Ärmel oder das hohe Bündchen, ein optisch interessantes Detail“, sagt Vivien.

So ist es auch bei Lisa und Christian. „Alle sollten dieselben Chancen haben. Menschen mit Trisomie 21 haben einen anderen Körper, gar nicht darauf einzugehen, wenn es gar nichts gibt, das ihnen passt, das grenzt aus. Es gibt ja auch Mode für Dicke oder Schwangerschaftsmode, das wird auch nicht hinterfragt“, sagt Lisa. Der inklusive Gedanke hinter ihrer Kollektion, dass die Hemden Menschen mit und ohne Trisomie 21 passen, entschärft alle Einwände, diese Mode grenze aus. Rückhalt bekommen die zwei Designer auch vom Leiter der Wohnbereiche Steinhöring, Jürgen Rosmann, der sagt: „Je ‘normaler‘ ein Mensch der Umwelt erscheint, desto eher wird er integriert, kann Inklusion erleben.“


Text: kathrin-hollmer - Fotos: Clemens Krueger; privat

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