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Lesen mit Links (18): Schlafende Schöne

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Das Buch

Kinder, die krank machen - das gab es vor wenigen Monaten erst in Clemens J. Setz' großartigem SciFi-Thriller „Indigo“. Auf weniger experimentelle, aber ebenso gänsehautartige Weise funktioniert Jane Rogers' „Das Testament der Jessie Lamb“, in dem eine 16-Jährige zur Märtyrerin wird.

Das alles wird fehlen, wenn es keine Kinder mehr gibt: Windeln, Babykleider, Kinderwagen, „und wenn wir alt sind, werden alle alt sein. Niemand wird mehr arbeiten.“ Es wird keine Geschäfte, keine Müllmänner, keine Busse mehr geben. „Nichts. Alles wird knirschend zum Stehen kommen.“ Die 16-jährige Jessie Lamb lebt in naher Zukunft, in der den Menschen eben dieses fürchterliche Schicksal droht. Aus vermutlich terroristischen Gründen ist die rätselhafte Immunkrankheit MTS (steht für: MutterTodSyndrom) in die Welt gekommen, eine Mischung aus AIDS und Creutzfeldt-Jakob. Jede schwangere Frau wird automatisch mit MTS infiziert. Denn: Schwangere Frauen sind besonders anfällig für Infektionen.       

Die Welt versucht nun auf unterschiedliche Weise, die Apokalypse abzuwenden - oder wenigstens einen perversen Vorteil aus der schwachen Position der Frauen zu schlagen. Es gibt religiöse Eiferer, die mit Gebet und Enthaltsamkeit den Dämon austreiben wollen. Es gibt Männer, die daheim zwar keinen Sex mehr haben, nun aber wahllos fremde Frauen überfallen und vergewaltigen. Ihnen treten die Feministinnen von „FLAME“ entgegen.

Die Abschaffung des Menschen, wie er seit Jahrtausenden auf der Erde lebt, hat Michel Houellebecq in seinem Roman „Elementarteilchen” beschrieben.

Ihrer Ansicht nach ist das MTS eine Folge mehrtausendjähriger Unterdrückung. Männer fürchteten sich vor der weiblichen Sexualität und neideten der Mutter ihre Beziehung zum Ungeborenen. „Deshalb wollten sie Jungfrauen heiraten und die Unterwürfigkeit der Frauen bewahren, sie könnten sich nie sicher sein, dass das Kind denn auch von ihnen wäre.”

 

Aus gleichem Grund, so FLAME, hätten männliche Wissenschaftler auf besonders perfide Weise auf MTS reagiert. Neuerdings werden nämlich junge Mädchen rekrutiert, die sich künstlich befruchten und dann in ein Koma versetzen lassen. Dort entwickelt sich MTS langsamer. Das Baby überlebt und die Frau, die ansonsten viel schneller sterben würde, trägt als hirntote „Schlafende Schöne” ihr Baby aus - bevor die Geräte nach dem Kaiserschnitt abgestellt werden. Frauen sterben, weil sie Leben spenden – wie früher.

 

Zugleich wird versucht, menschliche Kinder in genmanipulierten Schafen heranzuzüchten, was für FLAME nichts anderes ist als die absolute Kontrolle herrschsüchtiger Männer über den geheimnisvollen Zeugungs- und Entbindungsvorgang. In dieser Welt, in der die Zivilisation vor dem Ende steht, beschließt Jessie, Tochter eines der besagten Wissenschaftler, ihren Körper ins Koma versetzen zu lassen, um als Märtyrerin den Fortbestand der Menschheit sicherzustellen.

 

Jane Rogers' Roman ist ein furchterregendes Gedankenexperiment, das einerseits an Dystopien wie „ Die Insel” erinnert, dann aber auch nah an die medizinische Realität angeknüpft ist, von Tierversuchen erzählt, die auf ähnlich Weise längst stattfinden, von Macht und Ohnmacht. Ein Page-Turner mit Hirn. 

 

Jane Rogers. „Das Testament der Jessie Lamb”, übersetzt von Norbert Stöbe, Heyne, 384 Seiten, 14,99 Euro.

 

Die Querverweise

Jane Rogers’ Roman wurde bereits mit Margaret Atwoods „ Der Report der Magd” verglichen und die fiktive Frauenrechtsorganisation FLAME aus dem Buch hat nicht nur sprachliche Ähnlichkeiten mit FEMEN. Deshalb ist „Das Testament der Jessie Lamb” mehr als eine Gen-Dystopie, sondern auch ein feministischer Thriller über das Verhältnis von Frauen, Müttern, Männern und dem neuen Diskurs über Weiblichkeit. Tatsächlich nimmt ein Kapitel die gegenwärtige Debatte um Brustamputationen und Angelina Jolie vorweg.

 

Die Updates

lit.FUTUR: 30 Studierende der Uni Hildesheim haben eine Tagung zu „neuen Formen der Literaturvermittlung” auf die Beine gestellt. Vom 24. bis 25. Mai geht es unter anderem um „partizipative Formen der Buchrezeption und Positionen der Autorschaft von morgen.”

 

Der weiße Reiher: Vom 24. bis 26. Mai findet das 18. internationale Lyriktreffen in Münster statt. Es treten unter anderem auf: Nora Bossong , Durs Grünbein , Derek Walcott , Jan Wagner und Nora Gomringer .

 

Literatur aus Hamburg: Hätte doch nur jede Stadt eine ähnlich schöne Homepage, auf der man sich ganz einfach über die Literaturveranstaltungen der kommenden Tage informieren kann. In dieser Woche begehen unter anderem die Fans von Douglas Adams einen „Towel Day” und Autor  Andrej Longo reist aus Neapel in die Hansestadt.

Text: jan-drees - Illustration: Katharina Bitzl

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