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Geliebter Fremder

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Mit gut 30 Leuten sitze ich in einem Stuhlkreis. Damit wir uns „ganz locker kennen lernen können", sagt Daniel. Er ist einer der neun Mitbewohner einer WG, die eine perfekte Ergänzung für ihre Wohnfamilie suchen. Er beginnt seine Sätze mit: „Uns ist es wichtig....", „Wir suchen auf jeden Fall...", „Bei uns ist es so...". Das „uns" klingt so exklusiv, dass ich lieber an meinem Flaschenetikett herum zupfe als mich im verbalen Dreißig-Mann-Kampf zu beweisen. Nach der Vorstellungsrunde und kurzem WG-Rundgang verschwinde ich deprimiert durch die Eingangstür. Meine Schultern sind verspannt, "locker Draufsein" ist etwas anders. So wie mir, schätze ich, ging es an diesem Abend allen.

Es ist nichts Neues, dass die einfache Mitbewohnersuche zum regelrechten Castingprojekt verkommen ist. Sicherlich: In vielen Städten sind die WG-Zimmer knapp. Das eigentliche Problem aber ist, dass die Erwartungen an unsere zukünftigen Mitbewohner ins Unermessliche gestiegen sind. Irgendwie hat sich in unseren Köpfen die Vorstellung eingenistet, dass bei der Mitbewohnersuche so etwas wie der neue beste Freund gefunden werden muss. Dass man nicht unbedingt mit einem müffelndem Mietnomaden wohnen möchte, ist klar. Dass nicht jeder das freundliche Angebot der Veganer-WG aus Solln mit eigener Kompostanlage dankend annimmt, auch. Warum aber dürfen nur noch explizit gefilterte Lieblingsmenschen die Wohnung bevölkern?

Die „Zweck-WG" wird neben Schimmel in der Dusche zum WG-Feind Nummer eins erklärt, gegen den mit „offenen Türen", einem „Gläschen Wein" und „gemeinsamen Kochen" regelrecht angekämpft wird. Der Bewerber für die Position des maximal netten Mitbewohners hängt an seinen ansprechenden Vorstellungstext deshalb aussagekräftige Bilder vom letzten Urlaub an, gleicht Hobbys und Facebookprofile ab, trifft sich zum Grillen oder im Pub. Er soll jemand sein, über dessen Existenz man sich immer noch freut, wenn er verkatert um 16 Uhr Morgens aus dem Zimmer wankt und das letzte Brötchen aufisst.

Nur: Für den perfekten Mitbewohner gibt es nun mal keine Garantie, auch nach dem zehnten gemeinsamen Probegrillen nicht. Und ist es wirklich so schlimm, einfach mit Menschen zu wohnen, statt mit ihnen zu leben? Muss man sich, nur um sich wohl zu fühlen, jedes Wochenende mit Mitbewohnern unter den Tisch trinken oder zum Äpfelpflücken auf den gemeinsamen Acker fahren? Ich habe viele Jahre in ehegleicher Symbiose mit meiner besten Freundin zusammengewohnt. Aber ich habe auch oft mit Fremden gewohnt, aus der Not, zum Beispiel im Auslandssemester. Dabei habe ich gelernt: Es ist toll, wenn der andere einem beim Frühstück ungefragt das Lieblingsobst aufs Müsli schnippelt. Aber es ist nicht weniger spannend, mit Menschen zusammen zu leben, mit denen man kaum etwas gemein hat. Es ermöglicht einem, das Biotop, dass einem durch Uni, Arbeit oder Freundeskreis umgibt, zu verlassen. Man lernt, mit Ungewohntem klarzukommen. Dass mein spanischer Mitbewohner eine völlig andere politische Haltung vertrat als ich und sich oft lieber in seinem Zimmer aufhielt als es sich mit mir beim Filmabend vor der Popcornschüssel gemütlich zu machen, war erst mal ein heftiger Kontrast. Trotzdem war es eine gute Zeit, in der ich gelernt habe, auch mit Menschen klarzukommen, die andere Ansichten haben als ich.

Wenn man nicht zwingend davon ausgeht, dass man sich seine Mitbewohner zusammenstellen muss wie ein gutes Weinregal, hat das etwas Befreiendes. Man hört auf, die eigenen Hobbies, das eigene Trinkverhalten, die Sichtweise aufs Leben ständig abzugleichen und sich aneinander anzupassen. Mit Mitbewohnern, die mir nahe standen, habe ich meistens alles geteilt, vom Freundeskreis über Urlaubswünsche und Abendplanung. In meiner WG-Familie war ich glücklich, aber auch unselbstständig. In einer Zweck-WG gibt es nur das Wohnen. Man lebt nicht zusammen, da fällt das soziale Sicherungsnetz so gut wie weg. Man trennt sich von der überzogenen Erwartung an die Wohnfamilie und konzentriert sich auf das eigene Leben. Es klopft nicht ständig jemand mit einem kalten Bier an der Tür, wenn man einfach nur mal alleine sein will. Und vor allem merkt man ziemlich bald, dass das eigene Wohlbefinden gar nicht so sehr vom Interessenschnittpunkt mit den Mitbewohnern abhängt, sondern am meisten von einem selbst. Und das ist ein ziemlich großes Stück Erwachsenwerden. 

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