Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Und als Nachbar ein Huhn - der Provinz-Vorurteile-Ticker

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Wenn ich den Begriff Komasaufen höre oder lese, dann sehe ich vor meinem inneren Auge als erstes empörte Erwachsene, die ihn aussprechen. Und als nächstes kotzende Jugendliche auf der Dorfkirmes oder an der Bushaltestelle, irgendwo in der Provinz. Sich ins Jenseits trinken, das machen doch nur unglückliche Teenager, die sonst keine Unterhaltung haben, oder?  

Das ist natürlich ein Vorurteil. Eine Meldung im aktuellen Spiegel scheint es allerdings zu bestätigen. Dort wird eine Statistik über die Krankenhausaufenthalte wegen akuter Alkoholvergiftung der 10- bis unter 20-Jährigen im Jahr 2011 angeführt. Dabei fällt auf: Die meisten Fälle gibt es in Kleinstädten bis 100.000 Einwohner. Den Rekord dabei hält die 40.000-Einwohner-Stadt Memmingen in Bayern mit 99 Fällen pro 10.000 Kindern und Jugendlichen. Es folgen Pirmasens (ebenfalls ca. 40.000 Einwohner, 89 Fälle), Schweinfurt (ca. 53.000 Einwohner, 83 Fälle), Fürth (ca. 116.000 Einwohner, 82 Fälle) und Straubing (ca. 45.000 Einwohner, 76 Fälle). In Hamburg und Berlin dagegen gab es 2011 13 bzw. 14 Fälle pro 10.000 Jugendlichen.  

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Provinzidyll mit Huhn. Stimmt das so?

Allerdings gibt der Spiegel auch eine Erklärung, die den hohen Anstieg der Krankenhausaufenthalte nach Alkoholmissbrauch von Jugendlichen (beinahe drei Mal so viele wie im Jahr 2000) nicht nur auf den größeren Alkoholkonsum zurückführt. Denn heute wird auch einfach schneller der Notarzt gerufen, wenn jemand zu viel getrunken hat. Das entkräftet das schon fast bestätigte Vorurteil vom saufenden Provinzteenager. Bringt aber gleich ein Neues zutage: Das vom aufgeregten, empörten Provinzler, der alles um sein Haus im Blick hat und allzu schnell zum Telefonhörer greift, um die Polizei oder einen Krankenwagen zu rufen.  

Wer selbst in der Provinz aufgewachsen ist, kennt die vielen Vorurteile, die es über diese dünn besiedelten Gegenden gibt. Ich zum Beispiel bin in einem Ort mit 2.000 Einwohnern am Rande des Westerwalds aufgewachsen. Ich bin die letzte, die diese Heimat verteidigen würde. Aber die Vorurteile darüber stören mich zum Teil trotzdem. Manchmal schäme ich mich sogar für meine Herkunft, weil ich glaube, dass die Menschen darum bestimmte Dinge mit mir verbinden: verzärtelter als ein Stadtkind, naiver, spätzündender, vielleicht sogar ein bisschen dümmer. Und wer nie in der Provinz gelebt hat, hat natürlich bestimmte Vorstellungen davon, die in meinem Fall mal stimmen und mal nicht: Der Bus fährt nur ein Mal die Stunde (stimmt), nirgends hat man Handyempfang (stimmt nicht), mit 16 geht man auf die Kirmes (stimmt), die Eltern haben Gartenzwerge vorm Haus stehen (stimmt nicht). Plus all die nervigen Kuh-und-Hühner-Sprüche, dabei hat mein 2.000-Seelen-Heimatnest sogar ein eigenes, sehr hässliches und kuhunfreundliches Industriegebiet.  

Welche Provinz-Vorurteile hast du? Oder bist du selbst in einem Dorf oder einer Kleinstadt aufgewachsen und musstest dich schon mit diversen Vorurteilen herumschlagen? Welche stimmen und welche sind Schwachsinn?

Text: nadja-schlueter - Foto: DiewildeLucie / photocase.com

  • teilen
  • schließen