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Klappe halten und funktionieren

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„Wir sollen schnell unser Abi machen. Und noch schneller studieren“, sagt der Schüler Paul Triller, 18, in ein grünes Megafon und geht die Stufen der Bayerischen Staatsoper in München hoch. Ein paar Passanten drehen sich um, gehen aber schnell weiter. Paul setzt noch einmal an: „Wir sind Rohmaterial für eine funktionierende Wirtschaft. Aber wir haben keine Zeit mehr, herauszufinden, wer wir sind, oder was wir können. Wir sollen die Klappe halten und funktionieren.“

Wir sitzen im „Provisorium“, einem ehemaligen Wirtshaus in der Münchner Lindwurmstraße, das in eine temporäre Kunstbar und Lesesaal umfunktioniert wurde. Dort wird der Film, in dem neben dem Gymnasiasten Paul noch ein Hauptschüler und eine Realschülerin ihre Meinung sagen, zum ersten Mal gezeigt. Vor den unverputzten Wänden ist auf Augustiner-Kisten ein Beamer aufgebaut. Etwa 30 Leute sind zur „Kick-Off“-Party gekommen, um den Schwarz-Weiß-Clip zu sehen, der innerhalb der neuen bayernweiten Schülerkampagne „Wir sind viele“ entstanden ist.

 

Die Passanten in dem Film sind echt. Die Studenten der Münchner Filmhochschule HFF, die den Film gedreht haben, wollten keine Statisten. Einer von ihnen ist Sebastian Stojetz. „In die Oper gehen Leute, die in ihrem Leben genügend Bildung genossen haben, dieses Gefälle, dass die einen viel weiter oben stehen und mehr Macht haben als der Protagonist, das wollten wir einfangen“, sagt er.

Echt waren auch ihre Reaktionen, nicht alle haben es in den endgültigen Clip geschafft. „Am Viktualienmarkt hat einer ‚Maul halten!’ gebrüllt“, erinnert sich Paul, „danach hat er mich aber auf einen Ingwertee eingeladen. Eine Mutter hat geklatscht und uns zugestimmt, bis sich eine ältere Dame eingemischt hat. Die haben richtig diskutiert.“

Mit am Tisch im „Provisorium“ sitzt auch Luise Baar, 25. Sie arbeitet für die Stiftung Gesellschaft macht Schule, die die neue Kampagne ausgerufen hat. Auch beim Dreh war Luise dabei. „Eine ging auf mich zu und fragte, wo ich herkomme und wo ich zur Schule ging“, erzählt sie, „und dann sagte sie, das sei nicht meine Schuld, aber ein niedersächsisches Abitur sei auf intellektueller Ebene so viel wert wie ein Realschulabschluss in Bayern.“

„Dabei läuft in Bayern auch viel schief“, sagt Luise. Eine Freundin hat ihr erzählt, dass sie in der siebten Klasse in Latein auf den Stuhl steigen musste, wenn ihr eine Vokabel nicht einfiel. Wenn sie eine zweite nicht wusste, auf den Tisch. „Bei mir in der Familie gab es kein Geld für Nachhilfe, hier in Bayern kriegen die super guten Abiturienten alle noch Nachhilfe. Es kann doch nicht sein, dass das System so aufgebaut ist, dass man noch Nachhilfe braucht, um ein gutes Abitur zu machen“, sagt Luise.

Schon als Schülersprecherin hat es sie gestört, dass immer nur Erwachsene die Bildungspolitik gestalten. Mit „Wir sind viele“ will sie das ändern und Schüler fragen, was in ihrer Schule falsch läuft und was sie allgemein an der bayerischen Bildungspolitik stört. „Wir sind viele“ sollte die Kampagne heißen, nach dem Tocotronic-Song, weil die vielen Bildungsstatistiken nur einen Durchschnitt abbilden. „Es gibt unglaublich viele Statistiken, die zeigen sollen, dass die Bildung in Deutschland, speziell in Bayern, so gut sein soll, und die Pisa-Studien, wo wir gut abschneiden. Gleichzeitig sind so viele Schüler fertig mit ihrem Leben, weil sie schon wieder eine schlechte Note bekommen haben. Viele müssen Religion schwänzen, um für die Mathe-Klausur zu lernen“, sagt Bene Lang, 17, von der StadtschülerInnenvertretung (SSV) München.

Dass viele Politiker sich wenig Gedanken über Schule und Bildung machen, zeigte ihm eine Begegnung mit dem Münchner Landtagsabgeordneten Georg Eisenreich (CSU). „Der sagte zu mir auf einer Podiumsdiskussion beim Schülerkongress im November, es sei ja schön, wenn wir streiken wollten, aber wir sollten das doch bitte am Nachmittag machen, wenn keine Schule sei, da habe er dann auch Verständnis. Nur: Ich habe im G8 jeden Tag bis 16 Uhr Schule. Ich glaube, das hat er nicht ganz verstanden.“ Im Wahljahr 2013 hofft er, dass sich die Politiker nicht mehr dem Druck auf die Bildungspolitik entziehen können.

Dafür sammeln Bene und die Macher von „Wir sind viele“ Schülerstimmen. Den Anfang haben die HFF-Studenten vorgelegt. Sie haben Schüler in München gefragt, was sie an der Schule stört. Herausgekommen sind mehrere Videoclips über große und auch kleine Probleme im Schulalltag. Manche beschweren sich über die großen Klassengruppen, dass die Lehrer sich nur auf die schlechteren Schüler konzentrieren, dass sie im G8 zu viel Stress haben, die ganzen Ferien über lernen müssen und bereits in der neunten Klasse Angst vor dem Abitur haben. Und auch darüber, dass die Toiletten dreckig sind.

Über Facebook, mit YouTube-Filmen und Fotos wollen sie noch mehr Statements sammeln. Der Zeitpunkt könnte nicht besser sein. Als Antwort auf die „Zeit“-Titelgeschichte der vergangenen Woche mit Richard David Precht, der gegen das deutsche Bildungssystem schimpft, hat die Initiative „Was bildet ihr uns ein“ den Hashtag #brevolt gestartet, unter dem Schüler und Studenten dieBildungsdebatte führen.    Die Macher von „Wir sind viele“ wollen als nächstes an Schulen gehen und noch mehr Schüler fragen. „Und wir wollen Bildungspolitiker dazu bringen, dass sie sich mit Schülern zusammensetzen, nicht in ihren Büros, in denen sie sich wohlfühlen, sondern im Park, an der Isar oder im Café“, sagt Luise. Am 24. Juli wollen sie einen münchenweiten Schulstreik organisieren und auf einer Demo die gesammelten Missstände vortragen.   Eine Gruppe, die bestimmt auch viel zu dieser Diskussion beitragen könnte, wird allerdings schweigen. Bei der Straßenumfrage haben die HFF-Studenten auch Lehramtsstudenten getroffen. „Im Spot sagt eine Grundschülerin, dass sie Angst vor schlechten Noten habe und nicht schlafen könne. Das haben wir vor einem Café gedreht, wo auch zwei Lehramtsanwärterinnen saßen. Sie sagten, dass sie das bei vielen Kindern beobachten, dass sie total unter Stress sind“, sagt die HFF-Studentin Doris Seisenberger, „aber vor der Kamera wollten sie das nicht sagen, weil sie sich nicht kritisch gegen das System äußern dürfen. Es geht immerhin um ihre Verbeamtung.“ 

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