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Im Sog des Zweifelns

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Ich habe schon immer dieses Idealbild von mir selbst im Kopf, auf dem ich die große, unabhängige Freidenkerin bin, die alles haben kann, was sie nur will; die sich nie auf faule Kompromisse einlässt, die sich nie mit dem Zweitbesten zufrieden gibt und die alles umschmeißt, was ihr nicht passt. Nur: Es funktioniert ja einfach nicht. Ich entscheide nicht allein über mein Leben. Das Leben verlangt mir ständig Kompromisse ab. Wenn ich mich für etwas entscheide, ist diese Entscheidung auf einer einzigen Ebene die beste, aber auf anderen Ebenen ist sie vielleicht nur die zehntbeste.

Ich hege so viele Träume darüber, wer ich sein könnte und sein wollte, wo ich leben könnte und wie. Warum lebe ich nicht in New York, Reykjavik, Rom? Warum bin ich nicht schriftstellernde Malerin, Filmemacherin, Möbel-, Schmuck-, Modedesignerin? Klar, ich versuche mich mit dem zu trösten, was ich stattdessen erreicht habe. Aber ich muss immer wieder an das denken, was ich nicht erreicht habe. Zur Beruhigung rede ich mir ein, dass genau das meine eigentliche Aufgabe ist: dieses Selbstverwirklichungsideal bröckeln zu lassen und mir einzugestehen, dass ich so unabhängig gar nicht bin. Viel bedeutsamer ist wahrscheinlich, dass ich, wenn ich eines Tages wirklich zufrieden sein will, gar nicht zu hundert Prozent unabhängig sein kann. Denn ich will ja Beziehungen, ich will ein Zuhause, ich will Ruhe, und ich will Sicherheit, ich will Kinder. Auch wenn mir all diese Verpflichtungen Angst machen, weil ich weiß, dass sie neben Halt und Zufriedenheit auch Langeweile und Selbstverrat bedeuten könnten.

Es ist immer dieser Grenzkampf: Wie weit darf ich das Leben einfach laufen lassen, und wann und wie oft muss ich es radikal umschmeißen? Ab wann wird Unzufriedenheit zerstörerisch, und ab wann macht Zufriedenheit lahm? Ich will das, was ich jetzt tue, nicht aufgeben. Ich will nur so gern noch so viel mehr. Warum ist das nicht möglich? Ich werde dieses Jahr 25. Viele Chancen habe ich bereits ungenutzt gelassen. Daran zu denken tut weh. Und ich habe eine höllische Angst vor den Momenten, in denen noch mehr Chancen an mir vorbeigerauscht sein werden. Ich fange dann wieder an, mich zu trösten: Ich will es ja auch nicht anders, ich will gar nicht, dass mein Leben ein perfekt durchgeplanter, geradliniger Fluss wird. Dieses Streben nach der absoluten Macht über das eigene Leben ist ja auch wieder vergeudete Hirnkraft, weil das Leben ja ohnehin eine Ansammlung von winzigen Entscheidungen und Zufällen ist. Deshalb macht es doch nur Sinn, es so zu tun, wie ich es tue: Ich lasse mich treiben, steuere ab und zu, mal unbeholfen, mal bestimmt, lasse oft genug den Zufall entscheiden. Am Ende ist es doch so: Man setzt sich hin, schaut zurück und sagt: So, das war es jetzt, das Leben. Ich habe es versucht, ist doch ein ganz reichhaltiges Ding geworden, passt schon. Weil einem sowieso nichts anderes übrig bleibt.

Aber so entlastend dieser Gedanke ist, er fühlt sich gleichzeitig auch wieder wie Versagen an. Ich kann mich doch nicht darauf ausruhen. Ist das, was ich jetzt tue, wirklich gut, oder rede ich mir nur ein, dass es gut ist, weil ich das Risiko scheue? Und selbst wenn ich alles, was ich jetzt tue, sein lasse und etwas Neues starte, wird mich ein Gedanke nie loslassen: Wie wäre der andere Weg weitergegangen? Dass ich immer nur von allem ein bisschen und nie von allem genug haben werde, macht mich verrückt. Ich frage mich, wann das aufhört, wann endlich einmal Ruhe und Stolz in einen hineinkommen, so wie man eines Tages aufhört zu wachsen und dann seine Größe kennt. Oder kommt dann irgendwann nur noch der Verfall – und mit ihm das Bedauern?

Text: mercedes-lauenstein - Foto: Seleneos / photocase.com

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