Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Wunder

Text: geigerin

Sie ist ein Wunder. In der Gesamtheit vielleicht ein kleines, nebensächliches Wunder, doch für mich das größte auf der Welt.



Sie gehört mir, ganz allein mir. Und sie erkennt mich. Wenn ich sie ansetze, verschmelzen wir zu Einem; dann ist sie ein Teil von mir und ich ein Teil von ihr. Wir gehören zusammen.



Es gibt einige von diesen Wundern, doch sie sind immer personenbezogen. Nur der dazugehörige Mensch kann dieses Wunder in seinem vollen Glanze erkennen. Dankbar bin ich, sehr sehr dankbar, dass ich eines dieser Wunder meins nennen darf und erkennen darf, jedes Mal aufs Neue.



Ich streichele leicht über ihren Körper. Uneben, doch ich weiß genau, wo die kleinen Kratzer sind, die Stellen, die das Harz verändert hat. Sie hat eine schöne Farbe; eine warme Komposition von verschiedenen Farbtönen leuchtet mir jedes Mal entgegen. Die Komposition verändert sich. Mal sehr dunkel, fast verschlossen und mit einer tiefen, geheimnisvollen Ruhe. Ein anderes Mal schon fast ins leidenschaftlich rötliche.



Man kann fühlen, wo meine linke Hand so oft liegt. Die Stelle an ihrem Hals hat sich schon leicht verfärbt und fühlt sich ganz weich an. Ich kann die Stelle auf den Millimeter genau bestimmen, rutsche so lange hin und her, bis es sich richtig anfühlt. Ich weiß genau, wo die einzelnen Finger hinkommen, kenne genau die Beugung der Finger und ahne schon die Streckung des kleinsten Fingers vor.



Mein kleines Wunder liegt auf meiner Schulter. Es wird gestützt durch einen kleinen schwarzen Gegenstand, mein Helfer quasi. Früher hat die natürliche Form gepasst, doch wir beide haben uns mit der Zeit auseinander gelebt, dass wir jetzt diese Brücke benutzen. Doch wir beide nehmen sie an, weil wir wissen, dass wir uns dann noch besser begegnen können. Mein Kinn berührt die ebenholzige Auflage, die an dem Körper meiner kleinen befestigt ist. Es passt genau.



Zusammen haben wir schon sehr viel erlebt. Ich habe mit meinem Wunder zusammen viele Tränen vergossen. Habe sie an mich gedrückt und bitterlich geweint. Ich habe meine Sehnsüchte ausgedrückt und mein Wunder hat sie hörbar gemacht. Neben den Enttäuschungen meiner selbst durfte ich mit ihr ganz große tolle Dinge machen. Wir haben zusammen Bachs Doppelkonzert gespielt und durften das Göttliche in dieser Musik erfahren; wir haben in großen Orchestern die Werke gespielt und dabei die laufenden Musikwogen durch das Orchester gespürt. Wir haben zusammen Verantwortung übernommen und geführt. Und wir haben uns zusammen fallengelassen in den Spiegel von Arvo Pärt. Wir haben sehr viele Geschichten erzählt mit Dvorak und Mozart. Wir haben den Menschen aus unserer Perspektive betrachtet und haben Bartoks rumänische Volkstänze zusammen getanzt. Ja, wir durften das venezolanische Danzon über die Bühne bringen und das Feuer dieser Kunst spüren und wir fühlen die Traurigkeit in den albanischen Klagegesängen.



Ich und mein großes Wunder, meine kleine Geige.



 

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: