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Werbepause

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Jan Korte, 26 Jahre alt, Politikwissenschaftler, radelt morgens aus dem Berliner Bezirk Neukölln zur Arbeit ins angrenzende Kreuzberg. Normalerweise braucht er dafür etwa 15 Minuten. Wie viele Werbetafeln, Litfaßsäulen, Plakaten an Bushaltestellen er in dieser Viertelstunde begegnet? Er schweigt, rechnet im Kopf nach, schweigt weiter. Er weiß es nicht. „Aber es müssen weit mehr als 50 sein. Wenn ich nur die ersten 300 Meter meines Weges im Kopf durchgehe, fallen mir schon zehn Werbetafeln ein.“ Jan würde das gerne ändern. Wenn es nach ihm ginge, gäbe es auf seinem Arbeitsweg keine Plakate, die ihn auffordern, Geiz geil zu finden, einen Handyvertrag abzuschließen oder ein neues 48-Stunden-Super-Deo zu kaufen. Jan hat ein Ziel: eine Stadt ohne Werbung. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Mit etwa 30 Freunden und Bekannten hat er deshalb das „Amt für Werbefreiheit und gutes Leben“ gegründet. Seit gestern hat das Amt eine eigene Facebookseite, dort beschreibt sich die Gruppe selbst als „eine Fachbehörde für einen Kiez ohne kommerzielle Außenwerbung.“  

Man kann tatsächlich keine 30 Meter gehen, ohne einer Reklame zu begegnen. Im Bus, an der Haltestelle, in Schaukästen, in der S- und U-Bahn, ja sogar an den Treppenstufen des U-Bahn-Aufgangs – überall warten Werbebotschaften. Alleine die „Die Draußenwerber“, Tochterfirma einer der drei großen Werbeflächenvermarkter in Berlin, haben mehr als 1000 Litfaßsäulen und  Werbetafeln in über 170 U-Bahnhöfen im Angebot.

Die meisten Menschen nehmen diesen Werbewald wahrscheinlich nicht als ungewöhnlich wahr, er gehört zum Stadtbild einer modernen Metropole längst dazu. Auch Jan störte sich kaum daran – bis im Januar der Fachverband Außenwerbung eine Kampagne startete, um mehr Kunden von der Wirksamkeit dieser Reklameform zu überzeugen. Die Motive zeigten gutaussehende Menschen, die mit Farbbeuteln beworfen werden, dazu den Slogan: „Außenwerbung trifft jeden“. Jan war zu dieser Zeit mit den Leuten, die jetzt das Amt für Werbefreiheit gegründet haben, auf der Suche nach Möglichkeiten, sich für Nachhaltigkeit und globale Gerechtigkeit zu engagieren. Plötzlich hatten sie ihr Thema: „Werbung verhindert gutes Leben“, sagt Jan. „Wie soll es jemals eine nachhaltigere Welt geben, wenn uns an jeder Ecke Aufforderungen zu mehr Konsum begegnen?“  

Jetzt ist der Kampf gegen Plakate im Stadtbild eröffnet. Die Argumentation von Jan und seinen Mitstreitern: Der öffentliche Raum gehört allen, also auch denen, die von Werbung nicht behelligt werden möchten. „Im Fernsehen oder in Zeitschriften kann ich der Werbung ausweichen. Auf meinem Weg zur Arbeit ist das so gut wie unmöglich“, sagt Jan.  

Aber ist eine Großstadt ganz ohne Werbung nicht ein vollkommen utopischer Gedanke? Nein. In Sao Paulo ist Jans Traum bereits seit drei Jahren Realität. Anfang 2010 verbot der neue Bürgermeister dort jegliche Werbung im Stadtbild. Plakate wurden abmontiert, riesige Werbebanner von Hochhäusern gerissen, Leuchtreklamen wurde der Strom abgedreht. Theoretisch wäre das auch in Berlin denkbar. Die Bezirke sind zuständig für die Genehmigung von Werbeflächen. Wenn Vermarkter wie die „Draußenwerber“ eine Litfaßsäule aufstellen möchten, muss das zuständige Amt das genehmigen, zum Beispiel nach Gesichtspunkten der Ästhetik und der Sicherheit. Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hat vor einigen Jahren auch schon von seinem Mitbestimmungsrecht Gebrauch gemacht und Außenwerbung für Alkohol und Zigaretten verboten. Ein Komplettverbot wäre wohl schwer durchzusetzen. Viele Werbeflächen gehören der öffentlichen Hand, die Stadt verdient also an der Werbung, mit ein paar Plakatwänden an viel befahrenen Straßen lassen sich jährlich Summen im fünfstelligen Bereich einnehmen. Sollte diese Ausfälle in Jans werbefreier Utopie dann der Steuerzahler kompensieren? Jan antwortet mit Gegenfragen: „Heiligt der Zweck die Mittel? Und müsste man nicht die Spätfolgen von Überkonsum und künstlich generierten Bedürfnissen gegen die jetzigen Kosten aufwiegen? Ich glaube, dass uns all das letztendlich in der Zukunft viel mehr kosten würde.“  

In den kommenden Wochen wollen Jan und die anderen Beamten für Werbefreiheit mehr Unterstützer und Mitstreiter gewinnen. Denkbar sei, per Crowdfunding Werbeflächen zu kaufen und dann leer zu lassen, um erst mal wieder erfahrbar zu machen, wie eine Stadt ohne Plakate aussehen würde. Man könnte die Flächen auch anders nutzen, sagt Jan. Als Kommunikationsinstrument der Bürger untereinander. „Die Stadt soll ja bunt sein und leben. Die Menschen, die hier wohnen, sollen das Bild ihrer Stadt mitgestalten.“  

Außerdem sei man bereits mit Politikern im Gespräch, in der Lokalpolitik, aber auch im Bundestag. Nicht ohne Stolz erzählt Jan von einem Besuch bei einer Projektgruppe der Enquetekommission des Bundestags für Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität. „Wir haben mit einigen Abgeordneten geredet und unser Ansätze vorgestellt." Offenbar weckten sie Interesse: Die Argumente wurden von den Abgeordneten aufgenkommen und in einem Sonderpapier allen Mitgliedern der Arbeitsgruppe zugänglich gemacht. Ende April wird das Amt auch eine nicht-virtuelle Filiale in Kreuzberg eröffnen. Wo, will Jan noch nicht verraten. Er macht wohl selbst für die eigene Sache nicht gerne Werbung. 

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