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Stranger beware, there's love in the air under Paris skies.

Text: huit
"Eine leere Seite. So leer, dass sie am liebsten Farbe darauf gespritzt hätte, nur um dieses Weiß, dass sie von allen Seiten zu erdrücken schien, nicht mehr ertragen zu müssen. Sie hätte nicht gedacht, wie sehr Weiß einen in den Augen schmerzen kann. Es war nicht so, dass es in ihrem Kopf auch still und leer war wie in ihrem Appartment. So viele Ideen flogen um sie herum, doch sie hielten nie still, wie kleine Schmetterlinge ergriffen sie die Flucht, wann immer sie sich ihnen nähern wollte.
Mit einem Seufzer erhob sie sich schlussendlich von ihrem harten Holzstuhl, den sie an ihrem ersten Tag in der Stadt einem alten, zahnlosen Mann am Seineufer abgekauft hatte. Er war eigentlich viel zu unbequem und sie könnte sich längst schon einen neuen leisten, aber ihr Herz hing an solchen Dingen. Der Stuhl war eine Erinnerung an die überschäumende Euphorie, die sie in ihren ersten Wochen verspürt hatte. Sie konnte sich noch erinnern, wie glücklich sie gewesen war, voller Träume, in der Stadt ihrer Träume, ihr ganzes Leben wie ein Traum. Es war ihr vorgekommen wie eine einzige große Seifenblase, eine schillernde Hülle, zu schön für diese Welt, und das war es auch gewesen, eine Hülle. So zart und dünn, dass sie zerbrach, sobald sich ihr etwas näherte.
Und jetzt saß sie Tag für Tag in ihrem kleinen Apartment und starrte auf die leere Seite vor ihren Augen.
Das Sonnenlicht stach in ihre Augen, als sie die schwere Holztür aufstieß und nach draußen trat, aber anders als die blanken Seiten war es ein angenehmer Schmerz. Einer, der ihr das Gefühl gab, noch am Leben zu sein. Die Luft roch nach Frühling, und der Duft von Crêpes, die an jeder Straßenecke verkauft wurden, wehte ihr in die Nase. Sie vernahm das energische Hupen der Taxifahrer, das Stimmengewirr der Touristen, die Rufe der Straßenhändler in der Ferne, und das Gurren der Tauben, das sie stets auf seltsame Art und Weise rührte. Sie sah, dass Paris in der Zeit, in der sie untätig vor ihren leeren Blättern gesessen hatte, seinen Wintermantel abgestreift hatte und der Frühling durch die kopfsteingeflasterten Gassen raunte.
Sie konnte förmlich fühlen, wie ihre Stimmung sich aufhellte. Sie wendete sich nach rechts, vorbei an dem kleinen Supermarkt, an dem sie morgens ihre frischen Croissants kaufte und sich dabei immer noch wie eine Fremde vorkam, die versuchte, in eine Stadt zu passen, die nicht ihre war.
Ein Schlenker nach links, und sie gelangte an ihrem Lieblingsblumenhändler vorbei auf die Rue Belliard. Die Straßencafés waren von fröhlichen Stimmen und Geschirrgeklappere erfüllt, sie atmete die Sonne ein und sie wusste wieder, wieso sie hier war. Weil sie Paris liebte. Sie liebte diese Stadt mit Leib und Seele, sie liebte alles, wofür sie stand.

Am Eiffelturm waren so viele Menschen, dass ihr fast schwindlig wurde. Immer, wenn sie so viele Menschen auf einem Fleck sah, musste sie darüber nachdenken, wie viele verschiedene Gedanken dort herumflogen, jeder mit seiner eigenen Geschichte, die er mit sich herumträgt wie einen abgewetzten Koffer. So viele Geschichten, und sie wollte alle hören. Wieso schaute der Mann in dem grauen Regenmantel so mürrisch? Wieso war er allein? Und wieso trug er bei dem strahlenden Sonnenschein einen Regenmantel? Vielleicht dachte er darüber nach, dass er in seinem Leben zu viele Chancen verpasst hatte. Er hatte nicht um seine Frau gekämpft, den Draht zu seinen Kindern verloren, die jetzt mit seiner Frau und ihrem neuen Partner außerhalb von Paris wohnten und ihn nur ein paarmal im Jahr zu sehen bekamen. Er war nicht zu seiner sterbenskranken Mutter gefahren, weil er gedacht hatte, noch Zeit zu haben, und jetzt vermisste er sie so sehr. Und jetzt stand er hier, allein und verloren, mit nichts als einem Ticket in der Hand, in der Hoffnung dass von dort oben all seine Sorgen genauso winzige Punkte sein würden wie die Dächer der Stadt.
Vielleicht war es aber auch ganz anders. Vielleicht schaute er nur einfach etwas mürrisch, weil seine Freunde sich wie immer verspäteten.
Sie würde es nie wissen.

Aber eines wusste sie, während sie den Himmel spürte und in sich hineinlächelte:
Heute würden die Seiten nicht weiß bleiben."

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