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Ein Opfer aus allerbestem Hause

Text: Spassmacher

Der Drang, das Badezimmer aufzusuchen, ließ mich  mitten in der Nacht aufwachen. Für gewöhnlich stehe ich nachts nicht auf, und so führte ich diesen unüblichen Impuls zurück auf den Weißwein und eine Kartoffelbeilage, die ich am Abend zu meiner Forelle genossen hatte. Ich war mit Freunden in einem reizenden kleinen Lokal in der Innenstadt gewesen. Ich plante, sofort wieder ins Bett zurückzukehren und sah daher davon ab, das Licht einzuschalten. Also tastete ich mich halbwach und halbschlummernd mühevoll durch meine stockdunkle Wohnung. Hin und wieder streifte ich Teile von Möbeln, die ich dort nicht vermutet hätte und die unerwartet meinen Weg ins Badezimmer kreuzten, bis ich schließlich an den Arm und die Schulter eines Passanten stieß. Gewohnheitsmäßig bat ich sogleich um Entschuldigung und setzte meinen Weg fort, als mich nach einigen Sekunden der Gedanke erfasste, dass zu dieser Zeit genau genommen niemand sonst in meiner Wohnung unterwegs sein sollte. Ich entschloss mich daher, zum Ort des unerwarteten Zusammentreffens zurückzukehren, um mehr darüber in Erfahrung zu bringen, als ich erneut an den unbekannten Gast stieß, nur dass ich dieses Mal, und dies war der immer noch herrschenden völligen Dunkelheit geschuldet, mit meiner Nase an die Faust der anderen Person knallte. Der Standfestigkeit dieser Hand nach geurteilt, war ich nun sicher genug anzunehmen, dass ich die Ehre hatte, einen Gast männlichen Geschlechts willkommen heißen zu dürfen. Nach einer sehr kurz gehaltenen Begrüßung schlug ich vor, uns einen Tee zu machen, denn die Rückkehr in mein Bett stand nun nicht mehr ernsthaft zur Debatte. Der Gast entpuppte sich als vollkommen bescheidener junger Gentleman, als er den Tee sogleich ablehnte, zweifellos, um mich vor jeglichen Umständen in seinem Namen zu bewahren. Stattdessen, offenbar bezugnehmend auf meinen ursprünglichen Plan, bot er an, mir dermaßen eine zu verpassen, dass ich nie wieder scheißen könnte. Obschon dankbar, bemühte ich mich doch, dieses Missverständnis sofort zu berichtigen, indem ich erklärte, dass ich mich lediglich auf dem Weg befunden hatte, mich vom Weißwein zu entledigen, den ich zusammen mit einer Kartoffelbeilage zum Abendessen in diesem reizenden kleinen Lokal in der Innenstadt genossen hatte. Er pflichtete mir bei, dass es sich dabei um ein hervorragendes Restaurant handelte, schien dann jedoch keine Vertiefung unserer noch jungen kulinarischen Diskussion zu verfolgen. Stattdessen bat er mich in einem ziemlich ungeduldigen Ton, ich möge ihn durch die Wohnung führen. Ich schloss daraus, dass sein Besuch bei mir zurückzuführen war auf sein tiefes und ehrliches Interesse an meiner bescheidenen Behausung. Anders als all meine unwissenden Freunde und Bekannten, die meinen Lebensstil stets als „teuer aber geschmacklos“ apostrophiert hatten, bewies sich dieser Herr als gewandter Kenner von Kunst und Stil, indem er unverzüglich all jene Gegenstände in meiner Wohnung mit wahrnehmbarer Begeisterung erfasste, die von einigem Wert waren. Ich kam nicht umhin, ihm einige meiner Besitztümer als Geschenk anzubieten, erschien mir dieser angenehme junge Herr im Lichte einer Lampe, die ich in der Zwischenzeit angemacht hatte, doch als außergewöhnlich wohlerzogen sowie über die allerhöchsten Ambitionen bei gleichzeitig allergeringsten materiellen Mitteln zu verfügen, was zweifellos in keiner Weise auf seinen makellosen Charakter zurückzuführen sein konnte.



Ich bin immer der tiefen Überzeugung gewesen, dass jene, die das Glück haben, sich, aus welchem Grund auch immer, im hellen Sonnenschein des Schicksals zu befinden, die moralische Pflicht haben, all denjenigen unterstützend beizustehen, die dazu verdammt sind, ihre bemitleidenswerte Existenz im Schatten zuzubringen. Meiner Meinung nach waren die Sozialisten auf keinem völlig verkehrten Wege, als sie den altehrwürdigen Wahlspruch von Robin Hood, von den Reichen zu nehmen, um den Armen zu geben, für ihre eigene Sache übernahmen und Teil ihres politischen Programms werden ließen. Wir vermögen nicht, das Schicksal zu beherrschen. Jedoch vermögen wir sehr wohl, seine Irrtümer auszugleichen. Als ich an jenem Abend die Kartoffelbeilage bestellte, gab ich mich nicht nur einem flüchtigen Verlangen nach der wohlschmeckenden Knolle hin, sondern vollzog in erster Linie einen Akt der Anteilnahme am Schicksal der einfachen Leute. Ich glaube, dass Menschen wie ich aufgefordert sind, den Anbau von Kartoffeln zu unterstützen und dabei zu helfen, dass unsere Volkswirtschaft sämtliche benötigten Ressourcen in diesen Zweig der Nahrungsmittelproduktion lenkt, anstatt sie für die Herstellung von überteuerten Lebensmitteln zu verschwenden, die sich nur die Reichen leisten können, während die Armen in einer Wiederholung der schrecklichen Hungerkatastrophe von Irland tausendfach den Tod finden.



Nach einigen weiteren Minuten stiller wie tiefer Überlegungen, kam ich schließlich zum einzig denkbaren Schluss, nahm all meinen Mut zusammen und ließ meinen Gast wissen, dass es mir das allergrößte Vergnügen bereiten würde, wenn ich ihn um einen weiteren, den vielleicht ultimativen Gefallen bitten dürfte: Ziehen Sie in meine Wohnung! Nehmen Sie sich einfach alles! Ich werde mich da draußen schon irgendwie zurechtfinden.

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