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Tunnelblick

Text: Himmelsschatten
Bis vor einem Jahr hätte ich mein bisheriges Leben als eher gewöhnlich und langweilig bezeichnet. Eintöniger aber gut bezahlter Job, kaum Freunde, kleine Wohnung, wenig Interessen. Bis ich umgezogen bin. Ich zog in ein schönes und ruhiges Viertel der Stadt, nahe einer Parkanlage mit kleinem See. Dort ging ich auch beinahe täglich joggen und dehnte mich anschließend immer an der selben Parkbank, die stets unbesetzt war. Klingt noch immer langweilig und gewöhnlich? Ich würde fast schon spießig behaupten. Doch dann traf ich SIE! Mit einem Buch in der Hand und einer Sonnenbrille auf der Nase saß sie auf „meiner“ Bank und las. Ich war sofort hin und weg! Obwohl ich mich zögernd dazu entschloss, mich dennoch an der Parkbank zu dehnen, schenkte sie mir nicht einen Moment ihrer Aufmerksamkeit, so sehr war sie in ihr Buch vertieft. So joggte ich die letzten Meter zu mir nach Hause, in der Hoffnung, ihr ein weiteres Mal zu begegnen. So kam es dann auch.


Mehrmals die Woche kreuzen sich unsere Wege entweder im Park, oder auf meinem Arbeitsweg. Einmal lächelte sie sogar in meine Richtung. Ob ich gemeint war, kann ich nicht genau sagen, da sie abermals ihre Sonnenbrille trug und ich somit ihrem Blick nicht folgen konnte. Sie selbst sah jedes Mal noch ein Stück bezaubernder aus. Ich war bisher immer zu schüchtern, um sie anzusprechen. Ob sie wohl einen Freund hat? Durch ihre Fenster konnte ich zumindest bisher nie einen Mann sehen. Ich hatte zufällig herausgefunden, wo sie wohnt. Im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses, nur eine Strasse von meiner Wohnung entfernt. Sie hat auch einen kleinen Balkon, den sie mit Blumen bepflanzt, die ich nicht kenne. Von der Strasse aus, kann man in zwei Räume blicken, daher nehme ich an, dass die Wohnung nicht sehr groß ist. In meinen Träumen ist ihre Wohnung jedoch sehr groß und sie meist leicht bekleidet.



Neulich begegnete ich ihr auf dem Weg in die Innenstadt und begleitete sie ein Stück. Sie bemerkte mich nicht. Nun weiß ich, dass sie noch studiert. Also ist die Frau meines Herzens nicht nur eine Schönheit, sondern auch noch schlau! Und auch sonst hat sie viele Interessen. Sie ist kunstbegeistert und geht zwei Mal die Woche auf einen nicht weit entfernten Hof zum Reiten. Gelegentlich trifft sie sich auch mit ihren Freundinnen in einem Café, das nun auch mein Stammcafé geworden ist. Sie bestellt sich dort immer einen Milchkaffee und ein Glas Wasser. Ich sitze immer einige Tische weiter, aber immer mit einem guten Blick auf sie. Dass sie äußerst fotogen ist, weiß sie vermutlich selbst nicht. Ich werde es ihr irgendwann zeigen.



Abends ist sie immer recht lange wach und sitzt vor dem Computer. Diesen kann man von der Strasse aus gut sehen, jedoch leider nicht, was sie da macht. Daher hab ich Mal im Internet gestöbert, ob sie vielleicht irgendwo angemeldet ist. Ihren Namen hab ich ja erst kürzlich durch eine ihrer Freundinnen erfahren. Ihre Telefonnummer bekam ich aber leider nicht. Jedoch weiß das Internet alles. Ich wurde fündig, kannte nun nicht nur ihre Telefonnummer, sondern auch ihren Beziehungsstatus und sonstige Interessen. Sozialpädagogik studiert sie also. Sie ist Single und hat eine Wishlist bei Amazon, auf der viele interessante Bücher stehen. Ich habe noch keines davon gelesen. Sie scheint viele Freunde zu haben und hat auch eine Vielzahl schöner Fotos ins Netz gestellt. Ich habe alle ausgedruckt und eingerahmt. Ich schickte ihr eine Freundschaftseinladung. Darauf reagierte sie leider nicht.



Auch nicht auf meine Blumen, die ich ihr mit einem kleinen Grüßkärtchen versehen, vor die Haustür legte. Wenn ich sie anrief und durch den überwältigenden Klang ihrer Stimme einige Sekunden sprachlos war, legte sie verärgert auf. Ich traute mich dann ein paar Stunden lang nicht mehr, erneut anzurufen. Ich war so sehr in sie verliebt, dass ich richtig um ihre Gunst und ihre Aufmerksamkeit kämpfte. Diese Bemühungen waren natürlich sehr zeitintensiv, weshalb ich auch meinen Job kündigte. Umso mehr Zeit verblieb, um die Profile sämtlicher ihrer Freunde durchzuklicken. Dadurch konnte ich mir auch ein besseres Bild über sie verschaffen. Im Lebensmittelgeschäft verglich ich die Waren in ihrem Einkaufskorb mit den meinen und stellte gedanklich ein Menü zusammen. Dieses versuchte ich zu Hause nachzukochen, machte ein Foto davon und fügte ihre strahlende Gestalt per Photoshop hinzu, als würde sie bei mir am Tisch sitzen. Ich war stolz auf das gelungene Kunstwerk, welches sehr echt wirkte und warf einen Ausdruck davon direkt in ihren Briefkasten. Damit sie es auch finden konnte, klingelte ich bei ihr und verschwand dann hinter dem Gebüsch im Nachbargarten. Ich wollte schließlich sehen, wie sehr sie sich über meine Kreativität freut. Ich wartete sehr lange, aber sie trat leider nicht aus der Tür. Auch ging sie gar nicht mehr ans Telefon. Ich machte mir Sorgen!



Als ich dann mit Hilfe einer Leiter aus dem Gartenschuppen des Nachbars den Balkon hinauf kletterte, um zu sehen, ob bei ihr alles in Ordnung war, sah sie mir das erste Mal direkt in die Augen. Ich war völlig bezaubert. Sie schrie und griff nach einem Küchenmesser. Warum, weiß ich nicht. Leider war es das letzte Mal, dass ich ihr so direkt ins Gesicht blicken konnte. Die Polizei sprach von Stalking, Hausfriedensbruch und anderen Dingen, die ich nicht nachvollziehen konnte. Nun muss ich leider erneut umziehen, da ich mich ihr nur noch auf 500 Meter nähern darf. Mein Therapeut sagt, es sei besser für mich, die Stadt komplett zu verlassen. Er sagt, die Liebe würde dann auch bald enden, die Medikamente würden dies unterstützen.

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