Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

UTOPIA en vogue!

Text: HEDunckel






Unter dem Druck des aktuellen Pferdefleisch-Skandals können europäische Konsumenten ihre bisher stillschweigend vorausgesetzten Privilegien gegenüber anderen Regimen von Bananen-Republiken und Operetten-Diktaturen nicht länger glaubhaft geltend machen. Allzu offensichtlich sind auch wir, und nicht nur in diesem Einzelfall, zu „Ist-auch-drin-was-drauf-steht-Opfern“ geworden. Wer möchte da nicht in problemfreie Zonen wie „Utopia“ flüchten? - Auch wenn bei uns das Konzept historisch als Vision weniger greifen konnte? - Das Adjektiv „utopisch“ gar im Deutschen mit rein negativen Aromen wie „abwegig“ bis „unmöglich“ belegt wurde? Vielleicht gar von Zentralräten für Bürgeraufklärung und Propaganda, die noch heute auf Holzwegen umher irren? - Es scheint: „Wo immer man sich aufhält – man muss jetzt überall das Glasdach über der Szene mitdenken.“ - verschreibt uns Peter Sloterdijk mit seinen Treibhaus-Parabeln über das Leben „Im Weltinnenraum des Kapitals“. Und wie Neuro-Kompensatoren eines bereits mythologisch nur als Vergangenheit noch in Erinnerung gebliebenen „Außerhalb“, drängt sich aktuell „Utopia“ unter der Kuppel des Glaspalastes universeller Kaufkraft in unsere zeitgenössische Event-Kultur. Von Berlin - über Hamburg - nach München (seltsamerweise NICHT! nach Stuttgart) geht eine Reise, die uns aus fabrizierten Hoffnungslosigkeiten in eine Welt der Illusionen entführen soll; ohne sich dabei oft ihrer eigenen illusionären Wurzeln, Fundamente oder Praktiken bewusst zu sein. Doch der James Bond im Haus erspart bekanntlich den Eduard Zimmermann.







Soundcheck - "Kommando Himmelfahrt"

Eigentlich geht es bei „Utopia“ nur um einen Roman, den Thomas Morus 1516 in Löwen geschrieben hat. Um ein darin dargestelltes „perfektes“ Reich, in dem jeder zufrieden ist. Wo die Dinge gut gemacht werden - von Menschen die sie gerne tun - und wo sämtliche Probleme, die unsere Welt seit jeher plagen, nicht mehr existieren. „Wer auf diese Idee kam, war entweder betrunken, stoned, auf einem L.S.D.- Trip oder verrückt - oder vielleicht alles zusammen …“, heißt es im “urban-dictionary“, und dort wird auch auf ein beliebtes Online-Spiel mit dem selben Namen verwiesen. Angeblich sind Menschen, die es spielen, davon bedroht alle sozialen Fähigkeiten zu verlieren, stundenlang im Chat mit Freunden und Verbündeten online zu verbringen, und Dinge zu sagen wie "Verdammt, gerade von einem gepumpten Ork geschnappt worden. Es ist aber reine Anfütterung, so dass mein Selbstmordzug ihn zerstören wird, weil ich gleich seinen Bauern schlagen werde."- Taktiken ... symptomatisch bei postsuizidalen Strategien? - Utopia … das Leben auf dem Schachbrett? - Wir finden aber einen wichtigen Hinweis: Keine Sorge, wenn Sie das Spiel nicht verstehen. Die Hälfte der Menschen, die es spielen verstehen es auch nicht. Und einen Dialog: Sir Thomas Moore: Ich lebe von utopischen Idealen. - Antwort: Du fuckin' Dummkopf ! - „Kunst hat inmitten herrschender Utilität zunächst wirklich etwas von Utopie als 'das Andere', vom Getriebe des Produktions- und Reproduktionsprozesses der Gesellschaft Ausgenommene, dem Realitätsprinzip nicht Unterworfene ...“, wurden kulturelle „poker-faces“ und artistifizierte Langweiler schon von Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie belehrt.







Verdunkelung der Erde?

So geht es immer um zeitgenössische Utopien; heute in einem Reich der untergehenden Kaufkraft: Wirtschaftskrise, Eurobonds, Kapitalismus-Absurditäten, Umweltverschmutzung, Ozonloch, CO2, Atomkraft, Unwetter, Klimawandel, Gewalt, Ungerechtigkeit, Armut, Einsamkeit... STOP! - Es geht auch anders! „Pfade durch Utopia“ - Buch plus Film hatten im Herbst 2012, als spannender Reisebericht und Dokumentation utopischer Praxis, Premiere im Sputnik-Kino / Berlin. Isabelle Fremeaux, die mit John Jordan das Kunstkollektiv »Laboratory of Insurrectionary Imagination« (Labor für aufständische Vorstellungskraft) gegründet hat, begnügt sich nicht mit einer utilitären Suche nach praktischen Nischen für kulturellen Input. Kreativität wird zum Kontrastmittel, dass sich gegen den nekrophilen Nebel im globalen Kulturpalast vital abzuheben vermag. „Liberate Tate“ ist da ein interessantes Beispiel. Ein Netzwerk, das zu kreativem Ungehorsam gegen „Tate“ (London) aufruft, bis die finanzielle Unabhängigkeit von einem Öl-Multi gewährleistet ist. Also eine exponierte Stelle des britischen Kunstbetriebs, die im Getriebe des Produktions- und Reproduktionsprozesses der Gesellschaft auch als „Ausgenommene“ begünstigt bleiben soll. Reduziert sich nämlich der Abstand zwischen bisher unbewohnter Utopie und bereits verlebter Gewohnheit gegen Null, ohne dass wir frei in einem gemeinsamen „Jetzt“ leben, scheint Kommunikation bisweilen nicht erst Selbstzweck zu werden: Kommunikation „ganz normaler“ Menschen mit außergewöhnlicher Macht operiert als Hauptgefahr der Menschheit.







IBA-Modelle als virtuelle Kulisse

Für geringen kontextuellen Trost in dieser Hinsicht, war, am letzten Wochenende in der „Kulturfabrik“ Kampnagel, ein PR-Event der Internationalen Bauausstellung / IBA-Hamburg ausgelegt. (weitere Vorstellungen am 23.03.2013 zur Eröffnung der IBA) Hier zeigte ein „Kommando Himmelfahrt“ wenig Hemmungen, das Konzept „Utopia“ als eine Art Märchenvorstellung im „modernen“ Format in Szene zu setzen. In dem ausliegenden Begleitblatt zur Veranstaltung wurde aber eine Auto-Absolution aus dem originalen Text vorausgeschickt: „Es ist ausgeschlossen, dass alle Verhältnisse gut sind, solange nicht alle Menschen gut sind ...“ - und umgehend wurden Bezüge zur Aktualität in eine Warteschleife verwiesen: „ ... worauf wir ja noch eine hübsche Reihe von Jahren werden warten müssen.“ - Die Frage stellte sich jedoch weniger respektive der perzipientellen oder expedientellen „Güte“ (also der kognitiven Qualitäten) anwesender Menschen - Zuschauer wie Akteure, sondern in Bezug auf implizite wie explizite „Verhältnisse“ der Auftraggeber: „Ist-auch-drin-was-drauf-steht?“ - Glücklicherweise war da die Installation einer bescheidenen EIN.BAU.KÜCHE von Joonas Lahtinen, am anderen Ende der Kulturfabrik, die dort im Rahmen eines „Freischwimmer Festival“ und eigentlich in einem ganz anderen Kontext ihren Platz gefunden hatte. (Foto oben und unten) Es gab eine aufschlussreiche Warnung mit auf den weiteren Weg: „Räume wirken, bewusst oder unbewusst, ständig auf das Lebensgefühl der Menschen ein. Diese können der Architektur gar nicht entrinnen.“ (Margaritte Schütte-Lihotzky im Begleitblatt) - Ohne derartige Hinweise wären viele Szenen beim „Kommando Himmelfahrt“ völlig unverständlich geblieben. Wie zum Beispiel der Auftritt zum Eid der Einbürgerung des auf der utopischen Insel gestrandeten Raphael Hythlodeus in die „Utopia-Community“: Er stand virtuell in Wilhelmsburg, vor der projizierten Fassade des neuen Gebäudes der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt / Hamburg.



Andere Hintergründe, direkt an IBA-Modellen gefilmt und auf zwei Leinwände projiziert, erweckten diffuse Assoziationen inniger Verbundenheit von Bauausstellung und Utopia. Wohnschäume in Zinsträumen? - Dezent eingebettet ins Beiblatt finden wir jedoch eine Antwort auf die Frage nach der praktischen Umsetzung von Utopien: „Eine Vision, die über die Freiheit des Einzelnen die Perfektion des Gemeinwesens stellt, eröffnet unausweichlich Wege in die Unterdrückung.“, und erkennen Hamburger Planer als dem Realitätsprinzip radikal Unterworfene und durch eine „a priori“ Utilität aller Utopie Distanzierte. Die Perfektionierung des Gemeinwesens, durch eine flirrende Zirkularität des Geldes, ist im hanseatischen „Reich der Kaufkraft“ seit jeher erstes, ungeschriebenes Gesetz. In der Planung dominiert Menge vor Güte: Über der Container-Logistik, der Musical-Politik und dem Kreuzfahrt-Tourismus, gipfeln vermeintliche Visionen von Zukunft in Form einer gigantischen Krone qualitativer Mittelmäßigkeit: Die Elphilharmonie. Aber auch ein prozessiv als „Verfilmung eines PR-Events“ angelegtes Spektakel, kann in seinem Rahmen dem unter der Kuppel herrschenden Hausrecht (indoor obligations) nicht entfliehen. Die ständigen, im Drehbuch exakt kalkulierten, Schnitte und Wiederholungen auf dem „Set“ belegen lediglich: Der perzipientell Arme lässt sich auch von Darbietungen expedientell ähnlich Bemittelter begeistern. Und weil, wie ebenfalls Peter Sloterdijk so treffend bemerkt, „Was heute im Reich der Kaufkraft geschieht – es vollzieht sich im Rahmen einer generalisierten Indoors-Wirklichkeit“, hüten sich auch viele Erlebnisgeprüfte davor, voreilig die Immobilien-Blase in Hamburg platzen zu lassen, um ihrer individuellen Zukunft, in einem Reich nicht gänzlich verlorener Kaufkraft, keine Nachteile zu erwirtschaften.







Friedrich Liechtenstein (Mitte) als Präsident von Utopia

Rückt damit in Hamburg auch eine überfällige Aufarbeitung des Justiz-Skandals um Sokrates immer weiter in utopisch angelegte Fernen, lädt das Schauspielhaus München am 18. März 2013 erneut zu PLANET UTOPIA; und stellt in seinem monatlich stattfindenden Lesemarathon die berechtigte Frage: Wie wollen wir in Zukunft zusammen leben - und wie lieber nicht? Copy and paste: „Die nächste Etappe im monatlichen Marathon führt entlang architektonischer Utopien: Bauten, die Aussicht bieten auf neue, bessere Lebensweisen; Städte und Bürogebäude, entworfen für eine produktivere aber auch humanere Zukunft; Häuser, die sich einstellen auf ihre Bewohner und Besucher. Toparchitekten wie Rem Koolhaas oder Le Corbusier machen sich Gedanken über eine neue Architektur, basierend auf rasanten technischen Entwicklungen. Es wird um die Konfrontation von realen Plänen und Projekten mit phantastischen Visionen von Philosophen und Schriftstellern gehen: die psychotropischen Häuser von J.G. Ballard, das Baumarktchalet von Louis-Ferdinand Céline, das mörderische High-Tech-Hochhaus von Philipp Kerr, die Wohnschäume von Peter Sloterdijk und viele andere.“ Konfrontationen, die bei den Vorbereitungen zur IBA-Hamburg eher vermieden oder stark gefiltert wurden. - Doch der Ausgangspunkt zu neuen Weltbildern, ob im Großen oder Kleinen, ist im Kampf gegen alte Gewohnheiten und deren Macht über die „Freiheit des Einzelnen“ in seinen Entscheidungen markiert. Aussichten auf neue, bessere Lebensweisen können sich nur über die Optimierung von Funktionen in einem (leider noch immer utopisch fernen) Gemeinwesen entwickeln. Utopia en vogue: Nicht überall wo Zukunft drauf steht wird sie auch gefunden; und ein aktueller Pferdefleisch-Skandal kann so auch nur auf die historische Latenz eines Menschenfleisch-Skandals auf diesem Planeten verweisen ...



Holger E. Dunckel






EIN.KÜCHEN.BAU - Detail

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: