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Das Liebesdrama aus dem Telefon

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Eigentlich war das Handy ein totaler Fehlkauf. Sein neuer Besitzer hatte es auf Ebay erworben, für etwa 40 Euro, ein gebrauchtes Modell von Sony Ericsson. Wirklich benutzbar war es nicht, der alte Akku hielt maximal drei Stunden. Dafür barg das Handy einen unerwarteten Schatz.

Der Speicher war voller Nachrichten aus dem SMS-Posteingang seiner früheren Besitzerin. 900 Stück insgesamt. Der neue Besitzer begann zu lesen – und konnte nicht aufhören, so gebannt war er: „Ich verhedderte mich in einem Netz von Beziehungen, Anschuldigungen und Liebesbeweisen.“ Das schreibt er im Vorwort zu seinem Buch „Die Jule mit den Pizzabrötchen“, Untertitel: „Eine Liebesgeschichte in 52 Akten“. Es enthält 500 der 900 Nachrichten, unkommentiert aneinandergereiht, mit allen Fehlern und Unzulänglichkeiten schnell getippter Botschaften, endend mit der letzten SMS, die auf dem Telefon zu finden war, beginnend mit der ersten, in der die Dramatik schon anklingt: „Schatzi Hasi: Ich mache alles hauptsache ihr gehts gut.“ Dazwischen findet der Leser ein Auf und Ab aus Liebesschwüren, Streitereien und Versöhnungen, Eifersucht und Problemen. Jule, die junge Handybesitzerin, gerät in eine finanzielle Notlage, wird von ihrem Exfreund belästigt und glaubt, schwanger zu sein. Mehr Drama hätte sich der Herausgeber des Buches, der lieber unerkannt bleiben will, nicht ausdenken können. Und Jules Geschichte ist echt passiert.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Auch wenn die Namen aller Beteiligten im Buch geändert wurden, um deren Privatsphäre zu respektieren - die Echtheit der SMS-Konversationen befriedigt voyeuristische Bedürfnisse des Lesers, fordert ihn aber auch heraus. Die Gespräche zwischen den Kurznachrichten bleiben ihm verborgen, ebenso die Nachrichten, die Jule selbst geschrieben hat. Streitereien sind deshalb plötzlich vorbei, ohne dass der Leser weiß, warum. Er muss mutmaßen, interpretieren, Indizien auswerten.

Jules Geschichte ist aber nicht nur ein Liebesdrama, sie ist auch ein kleines Lehrstück über das Kommunikations- und Konsumverhalten unserer Generation. 2011 hat eine Studie in den USA ergeben, dass Jugendliche zwischen 18 und 24 Jahren im Durchschnitt mehr als 100 SMS-Nachrichten austauschen – täglich. Wer sich je gefragt hat, wer diese Menschen sind, hat in Jule jetzt ein imposantes Beispiel vor Augen. Das Telefon ist ihre Lebensader, ohne die sie nicht kann. Auf besonders schockierende Weise wird das deutlich, wenn man in ihrem Posteingang innerhalb weniger Tage Nachrichten liest, aus denen deutlich wird, dass sie einerseits ihre Miete nicht zahlen kann, andererseits von ihrem Mobilfunkanbieter Rechnungen über 227 Euro bekommt.

Aber auch die Entstehungsgeschichte des Buchs selbst konnte es so nur in unserer heutigen Konsumwelt geben. Die elektronischen Produkte, die wir kaufen und verkaufen, speichern unsere Persönlichkeit, und wenn wir nicht aufpassen, geben sie unser Intimstes an den neuen Besitzer weiter. Was damit geschieht, hängt von den Wirren und Wendungen der Wege ab, die das Produkt durch Second-Hand-Läden, Flohmärkte oder Onlineshoppingportale einschlägt. In diesem Fall hat der neue Besitzer dieses Intimste veröffentlicht. Jahrelang hat Jules Geschichte in einem Telefon mit altersschwachem Akku geschlummert. Jetzt ist sie öffentlich geworden.

 
„Die Jule mit den Pizzabrötchen“, 152 Seiten, erschienen bei Possible Books.

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