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Leise rieselt der Schnee (ins Hirn)

Text: freitagsmachichfrei

«Und dann hast du das ganze Geld, das ich dir zur Erstkommunion geschenkt habe, mit deinen blöden Kumpels versoffen», schalt sie mich. Mit zehn Jahren, überlegte ich...



Eltern haben manchmal klare Vorstellungen von den Bedürfnissen ihrer Kinder. Da Grosseltern auch Eltern sind, besitzen auch diese die genannte Fähigkeit. Und Kinder besitzen die Eigenheit, genau diesen Vorstellungen nicht zu entsprechen. So war das auch bei mir. Schon fast aus Prinzip. Inspiriert durch meine Geschwister, wollte ich ein grosser Musiker werden. Da ich aber nicht gerne lernte und lieber aus meinem Inneren schöpfte, kam für mich eigentlich nur ein Instrument in Frage: die Schiessbude. Gemeinhin auch Schlagzeug genannt.



Gibt es ein besseres Instrument, um die eigene Blüte der Pubertät zu zelebrieren, als dieses «Hau rein, mach laut»? Das ist eine rhetorische Frage. Natürlich gibt es nichts Geeigneteres. Presslufthammer gilt ja nicht als Instrument, hätte mir aber auch gut gepasst. Irgend ein Bekannter hat später mal erzählt, er spiele Presslufthammer in einer Punkband. Die durften aber nur an Dernièren spielen.



Aus dem Inneren schöpfen…wie geht das? Da müsste ja zuerst etwas aufgefüllt worden sein. Egal. Mein Entscheid stand fest. Und nachdem ich alle OMO-Waschtrommeln mit den viel zu sperrigen Plastikkegeln unserer Kinder-Kegelbahn zerfetzt hatte, wollte ich meinen Traum wahr werden lassen.



Auf meine heilige Erstkommunion – im Alter von 10 Jahren – schenkte mir meine Grossmutter 200 Möhren. Meine Eltern dachten wohl, dass ich mir nun das lang ersehnte Playmobil-Piratenschiff kaufen würde. Weit gefehlt. Mein Plan war schon seit langem klar. Ich trat meine erste Soloreise in die Stadt an. Es war eines der wenigen Male, als ich den Bus nicht verpasste. Der Terroranschlag auf die Trommelfelle nahm seinen Anfang (kann man als Metapher sehen).



Die Geldscheine tauschte ich gegen eine Blechtrommel ein, in einem Geschäft, das keine street credibility genoss. Das war aber wurschtegal, da meine Kollegen dieses Wort damals noch gar nicht kannten. Good old times! Kurzum, ich wurde bald als König verehrt, denn meine Kollegen spielten alle noch Blockflöte, wenn’s hoch kam, Trompete in der Jugendmusik.



Die Gesichter, die meine Eltern machten, als ich dann das erste Mal aus meinem Innersten schöpfte, seien hier nicht beschrieben. Meine Eltern reagierten mit dem Entwurf eines Katastrophenplans. Konkret: Trommeln war nur von 15.00 bis 16.00 Uhr erlaubt. Das war die Theorie. Wenn ich mich hätte an Zeiten halten können, hätte ich - wie vorhin schon erwähnt - nicht dauernd den Bus verpasst. So sah ich die Auflage eher als Empfehlung, denn als unveränderliches Gesetz an.



Die zweite Fehleinschätzung eltern- und auch grossmutterseits, war, dass sie nun dachten, aus mir werde ein wackerer Tambourmajor. In Uniform, Kittel und Streifenhosen, mit schnittiger Mütze, darunter der gekämmte Seitenscheitel. In rhythmischem Schritt sahen sie mich so durch das Dorf schreiten und den Marsch klopfen. Man versucht ja immer, auch das Gute in der Katastrophe zu sehen. Diese Vorstellung war mir allerdings etwas gar zu romantisch.



Meine Vision sah so aus: Auf dem offenen Anhänger eines Trucks durch die Städte fahren, auf einem riesigen Schlagzeug die Ratten unter den Brücken weckend. Ich weckte sämtliches Gekreuch und Gefleuch bei uns im Keller und meine Eltern mussten jeweils in den Garten flüchten und sich beim Geräusch des Rasenmähers entspannen. Ich nahm das nicht persönlich. Die grossen Meister wurden alle verkannt.



24 Jahre später besuchten meine Eltern und ich meine Grossmutter im Altersheim. Ich hatte sie schon etliche Jahre nicht mehr gesehen. Ich liess meine Eltern ihr Zimmer zuerst betreten und kam dann überraschend nach. Tadaaaa! Überraschung! Es war tatsächlich eine. Für mich. Meine Grossmutter nahm mich gar nicht zur Kenntnis. Als sie mich dann endlich realisierte, musterte sie mich und meinte: «Bist du gross geworden, Markus… .» Nun, abgesehen davon, dass sie mich mit meinem Bruder verwechselte, will man die Tatsache, dass man recht gross ist, irgendwann mal nicht mehr hören. Vor allem, wenn das Wachstum seit ca. 18 Jahren abgeschlossen war und seit Kurzem im fernen China boomt.



Ich war ihr nicht böse, sie sah halt nicht mehr gut. Dafür gut aus für ihre 103 Jahre. Als sie aus dem Fenster sah, bemerkte sie: «Oh, der Winter ist da, schön, der Schnee… .» Vielleicht erübrigt es sich, hier zu erwähnen, dass draussen ein schöner Sommertag in den Nachmittag hineinstolperte.



Meine Grossmutter plauderte nun aus ihrem aktuellen Nähkästchen. Sie sei sauer auf die Pflegerinnen. Als sie letzthin den Kleiderschrank öffnete und den roten Rock herausnehmen wollte, fehlte dieser. Die Pflegerinnen hätten ihn gestohlen. Sie habe sie dann mit Gift und Galle bedacht, aber die hätten alles abgestritten. Gesocks!



Wir sahen nach und fanden den roten Rock sofort im Kleiderschrank. Meine Grossmutter war farbenblind geworden. Sie hatte den Herbst des Lebens hinter sich gelassen und befand sich im Dauerwinter. Sie sah nur noch weisse Röcke. Wir lenkten sie ab und schlugen vor, einen Ausflug in die Cafeteria zu unternehmen.



Bei Kaffee und Kuchen, mitten im Gespräch, teilte sie mir dann mit, dass sie noch ein Hühnchen mit mir zu rupfen habe. Eigentlich konnte sie nur meinen Bruder meinen, mit dem sie mich schon vorhin verwechselt hatte. Sie erzählte mir, sie habe mir vor vielen Jahren Geld auf meine Erstkommunion gegeben. Stimmte. Und? Ich habe das Dankesbriefchen doch damals geschrieben. «Und  dann hast du das ganze Geld mit deinen blöden Kumpels versoffen. Du solltest dich was schämen!»



Sollte nach dieser Mitteilung die Schamesröte in meinen Kopf gestiegen sein, wäre das irrelevant. Mein Grosi hätte sie eh nicht sehen können. Ich fühlte mich trotzdem schuldig. Ich rechnete nach. «Dann müsste ich ja mit 10 Jahren schon Saufkumpels gehabt haben. Ich glaube, das erste und einzige Mal, als ich wirklich früh dran war, war bei meiner Geburt.» Ob meine Grossmutter diese scharfsinnige Analyse gelten liess, weiss ich leider bis heute nicht. Ein halbes Jahr später ruhte sie in Frieden. Sie starb an einem schneeweissen Wintertag.



PS: Der Autor hat erst 6 Jahre nach seiner Erstkommunion sein erstes Bierchen genehmigt. Geniessen konnte er es noch nicht. R.I.P. Grosi! 






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