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Wizzard spielen mit der Deutschen Bahn

Text: VinzenzFedor
- Wie das Bayern Ticket zum Zocken animiert.

Am 10. Juni 2012 ist die Befürchtung vieler Studenten, Tagesurlauber, Sprachfüchse und Frechdachse zu Realität geronnen: Das Bayern Ticket gibt es nicht mehr in der bekannten Form.

Schrittweise war die Fahrkarte, die es fünf Menschen ermöglicht, gemeinsam alle Nahverkehrszüge (und auch Busse) ab neun Uhr morgens zu nutzen, teurer geworden. Der letzte Stand war 29 Euro – auf fünf Leute aufgeteilt 5,80 Euro. Also eigentlich ein Schnäppchen für die Reisenden auf der einen und damit hohe Opportunitätskosten für die Deutsche Bahn auf der anderen Seite.



Hinzu kam, dass einige gewitzte Gesellen bei Umstiegen alte Mitfahrer gegen neue austauschten – der Bahn somit Geld entging, das direkt in die Taschen der Reise-Kapitalisten wanderte. Für die Bahn ließ sich allerdings nie eindeutig nachweisen, ob nun dieselben Personen auf der Karte fuhren, oder inzwischen ein Wechsel stattgefunden hatte. Ulkige Praktiken wie mehrmaliges Abstempeln je nach Anzahl der Reisenden, setzten sich bayernweit nicht durch.



Wer ein Ticket löst, muss spekulieren



Geld entging der Bahn auch, wenn Fahrkartenhalter mit beiden Beinen die Legalitätsgrenze überschritten. Manch einer schrieb den eigenen Namen mit Füller auf die Karte, killte die Tinte nach Ankunft und verscherbelte das Bayern Ticket zu Dumping-Preisen.



All diese halblegalen, illegalen, teils mafiös betriebenen Ausschlachtungen des Bayern Tickets gibt es noch immer. Mit einem Unterschied: Derjenige, der ein Ticket löst, muss spekulieren.



Denn seit besagtem Tag im Juni vergangenen Jahres muss die Anzahl der Fahrgäste beim Kauf des Bayern Tickets feststehen. Haben sich fünf Minuten vor Abfahrt nur drei spar-Erpichte zusammenfinden können, kann der „Tickethalter“ bei künftigen Umstiegen auch nicht mehr als zwei Mitfahrer mitnehmen.



Für den Zocker wird es interessant, bedenkt man, dass sich der Ticket-Preis nach der Anzahl der Reisenden richtet. 22 Euro sind der Sockel, auf welchen pro Mitfahrer vier Euro draufzustapeln sind – ab 18 Uhr nur zwei. Die Frage dreht sich immer darum, wie viel potenzielle Einnahmen verloren gehen können, also wie hoch die Opportunitätskosten sein können.



Potenzielle Einsparung: Über zwei Cheeseburger



Nimmt man beispielsweise – in der Hoffnung auf weitere Mitfahrer nach München - zu dritt ein Ticket für fünf von Coburg nach Nürnberg und findet dann niemanden mehr, war die Fahrt um acht Euro teurer, als sie hätte sein müssen. Spekuliert die Dreiergruppe jedoch auf keine weiteren Mitfahrer und trifft dann am Nürnberger Bahnhof zwei Leute, die unbedingt in die bayerische Hauptstadt fahren möchten, dürfen sie sich ärgern: Statt 10 Euro ((22+4+4):3) hätten sie ((22+4+4+4+4):5) 7,60 Euro und damit über zwei Cheese Burger weniger blechen müssen.



Am Fahrkartenautomat entsteht daher eine Art des Kitzels, wie man ihn beim Kartenspiel „Wizzard“ findet und empfindet. Dort fragt man sich vor jeder Runde aufs Neue: Wie viele Stiche werde ich machen? Liegt man nach der letzten Karte neben der selbst geschätzten Anzahl der Stiche, bekommt man die Differenz zur tatsächlichen Zahl unter dem eigenen Namen mit einem dicken Minus verbucht.



Ein Minus für das reale Ich oder ein Plus für ein mögliches



Ähnlich, doch ungleich spannender, da Geld im Spiel ist, verhält es sich mit dem Bayern Ticket. Am Ticketautomat am Bahnhof leuchtet nicht nur der Touch Screen, sondern auch die Zocker-Augen: „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, in Nürnberg zwei Leute nach München zu finden? Ist es zu riskant, von Coburg allein mit einem Vierer- oder sogar Fünferticket zu fahren?“



Ein Minus steht bei einer zu optimistischen Einschätzung des Mitfahrinteresses zwar nicht auf einem Block unter dem eigenen Namen – es ist aber im Geldbeutel deutlich spürbar. Anders herum werden Euros, die wegen zu weniger Plätze dem Tickethalter entgehen, dem Ich in einer anderen, möglichen Welt gutgeschrieben. Und dem gönnt man ohnehin nichts – schließlich hat dieses Ich schon so vieles, was man so gerne möchte…

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