Mein Land ist Dein Land
Von hier geht eine Straße ins Landesinnere, die auch an Seleukeia vorbeiführt. Wir beschlossen, da leider kein Dolmus zur Verfügung stand, die restlichen Kilometer zu laufen. So wanderten wir also entlang der Straße und genossen das Panorama des Taurus-Gebirges. Wir nahmen tatsächlich an, dass es bis Seleukeia nur einige Kilometer seien, bis auf einmal ein Traktor mit Hänger neben uns zum Stehen kam. Möglicherweise hatte der Fahrer ein paar unserer Wortfetzen aufgeschnappt, in jedem Falle identifizierte er uns sogleich als Deutsche. In gebrochenem Deutsch fragte er uns: "Na, wo wollt ihr denn hin?" Wir sahen uns fragend an, entschieden uns aber dazu, diesen sehr freundlich wirkenden Mann, der tatsächlich Mustafa hieß, in unser Vorhaben einzuweihen. Nachdem er sich alles angehört hatte, lachte er kurz auf: "Ja, das werdet Ihr zu Fuß wohl nicht schaffen." Wir berieten uns kurz. Sollten wir umkehren oder unterschätzt der Mann unsere Wanderleidenschaft? Da hatte Mustafa auch schon einen Vorschlag parat: "Ich war noch nie in Seleukeia. Ich möchte das auch mal sehen. Kommt, ich fahre euch dahin."
Nun stellen Sie sich bitte unerfahrene deutsche Touristen in den fremden Weiten der Türkei vor: "Kann man einem Mustafa wirklich vertrauen?" Ich schäme mich heute dafür, damals auch so gedacht zu haben. Mustafa aber insistierte: "Na kommt schon. Ich beiß euch nicht." Wir stiegen also auf den Hänger und mussten feststellen, dass Mustafa völlig recht hatte. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis wir fern ab der Straße in Seleukeia ankamen. Herrlich! Eine wunderbare Landschaft. Die Reste der antiken Stadt waren einfach nur beeindruckend. Wir sahen uns alles an und plötzlich fing Mustafa an, uns Details zu den Steinen auf dem Boden zu erläutern. Er kannte jede Gesteinsart und konnte ihren Ursprung und ihre Zusammensetzung erklären. "Woher weißt du das alles?" - "Nun, ich bin Geologe." - "Ach, und was machst du auf dem Trecker?" Da fing Mustafa an, uns seine Geschichte zu erzählen.
Nach dem Militärputsch 1980, wurde er, da er politisch sehr linksorientiert war, inhaftiert. Er musste einige Jahre im Gefängnis verbringen. Das schlimmste jedoch sei gewesen, dass ihm ein Berufsverbot auferlegt wurde. Seither arbeitete er als Forellenzüchter und ein wenig in der Landwirtschaft. Man sah ihm an, dass ihm dies kein großzügiges Einkommen bescherte. Wir waren entsetzt, traurig und erschrocken.
Auf dem Rückweg setzte er uns in der Nähe einer Dolmus-Linie ab. Wir bedankten uns herzlich und waren wohl auch den Tränen nahe. Als Kompensation für seine Mühe wollten wir ihm etwas Geld zustecken. Dies wehrte Mustafa jedoch vehement ab. "Ja, du hast einen ganzen Tag und auch Diesel für uns geopfert. Das müssen wir irgendwie wieder gut machen." - "Nein, ihr seid Gäste in meinem Land. Ich kann unmöglich zulassen, dass Ihr ein schlechtes Bild von der Türkei bekommt. Außerdem hat mir der Tag auch viel Spaß gemacht." Man stelle sich vor: Wir sollten keinen schlechten Eindruck von dem Land bekommen, dass Mustafa jahrelang im Gefängnis hat schmoren lassen und ihm seinen Beruf verboten hat! Ich habe aus diesem Erlebnis viel gelernt, zu viel, um es hier zu schildern. Aber vor allem habe ich gelernt, was menschliche Größe ist.
Inzwischen lebe ich übrigens in der Türkei und habe Mustafa oft wiedergesehen - bis zu seinem Tod vor einigen Jahren.