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Heid gehn ma ins Kaffeehaus oder glei ins Wasser

Text: betany

„Wanns zum Christkindlmarkt wuin dannat gengans am bestn de Stroßn do aufi, do kemmans an a Kaffeeeehaaus, dös übrigens besser is ois dieses hier, daaaan saaans a schoo dooo,“ erklärt ein Wiener mit bedächtigem Tonfall in einem Café zwei Touristen den Weg durch das vorweihnachtliche Wien zum blinkenden Christkindlmarkt am Rathausplatz. Das Kaffeehaus in dem er gerade sitzt scheint seine Stammkneipe zu sein, die Besitzerin steht neben ihm und blickt teilnahmslos drein, so als hätte sie jetzt nicht gehört, dass das Kaffeehaus dort vorne besser ist als übrigens das hier. Mit besser könnte er auch gemeint haben feiner, aber die beiden Touristen haben das nicht so verstanden. Sie stehen auf, gehen, ohne Trinkgeld zu geben.  Der Wirtin ist es egal, sie sieht den hereinkommenden Fiakerkutschern, die zum Aufwärmen ins Café gehen mit stoischer Ruhe zu, wie sie Platz nehmen. Sie wartet noch gut eine halbe Stunde bis sie sich bequemt die zwei Meter zu ihrem Tisch zu gehen und die Bestellung aufzunehmen. Ein anderer Herr sitzt schon und freut sich sichtlich über den Becher Schlagobers, den ihm die Bedienung endlich hingestellt hat. Mit einem seeligen Grinsen löffelt er den Becher langsam aus und trinkt nebenbei seinen verlängerten Braunen.



Im Kaffeehaus muss man Zeit mitbringen und den Willen zu beobachten und beobachtet zu werden. Man muss nicht befürchten angesprochen zu werden, wenn man nicht will, noch nicht mal vom Kellner. Auch wenn sich in großen Kaffeehäusern im ersten Bezirk die notorisch langsamen Wiener Kellner mit der ruhigen, fast schon höhnisch wirkenden Freundlichkeit mittlerweile rar machen. Es gibt sie noch. Junge Wiener bevorzugen deshalb den Coffee to go. Auch in Wien hat man nicht mehr viel Zeit, wenn man nicht gerade Rentner oder Tourist ist, der gerade Erholung vom Weihnachtsdisneyland in den Wiener Einkaufsmeilen sucht.



Der Stammgast sitzt wieder allein da, rührt in seinem Kaffee und starrt ins Leere. Gerhard Polt würde sagen, der sinnlost gerade vor sich hin. Der Schlagobersrentner hat ausgelöffelt. Auch der Kaffee ist leer, die nächsten fünf Stunden wird er keinen mehr trinken. Sitzen bleibt er trotzdem. Er holt sich den Standard, die große überregionale Zeitung, die gänzlich ohne Reportagen und mit so wenigen Blättern auskommt, dass in Deutschland noch nicht einmal Anzeigenblätter damit konkurrieren können. Er braucht lange bis er sie gelesen hat. Draußen werden Christbäume über die Straße gezerrt. Ein Mann verliert die Kontrolle über seine Tanne und lässt sie auf die Straße fallen, ein Busfahrer bremst gerade noch „Geh Scheißen“, brüllt der Personenbeförderer dem Mann zu, der die Tanne mit letzter Kraft auf den Gehweg rettet.



Sie reden schon miteinander, diese Wiener, aber nur das Nötigste. Für Außenstehende klingen die Dialoge oft unfreundlich. Der Christbaumkäufer hat sich das „Geh scheißen“ nicht zu Herzen genommen. Aber selbst so mancher Wiener kämpft mit den Sitten seiner Mitbürger. So kommt es, dass Wien und sein Umland nicht nur bekannt sind für seine Kaffeehauskultur, in der sich Leute treffen manchmal auch mit Worten mitten in die Seele, sondern für seine Selbstmördergeschichten. „Das kommt davon, weil Leute miteinander reden“, meint der Kabarettist Josef Hader. Die direkte und anteilnamslos wirkende Art der Wiener kann tief treffen. Nicht nur Kronprinzen haben deshalb schon Hand an sich angelegt, sondern auch einfache Mägde, hochwohlgeborene Söhne und Lehrersgattinnen. Gern ging man „ins Wasser“ um in den Fluten, der schönen blauen Donau keine „scheene Leich“ abzugeben.



Die Verzweiflung trieb die Menschen zum Naheliegendsten, dem Fluss. Viele konnten vor dem Krieg noch nicht schwimmen, das vereinfachte den Plan zu ersaufen und von den Fluten ganz weit weggetragen zu werden. Sie wollten weg und spannten die Donau dafür ein. Nicht einmal ihr Leichnam sollte mehr in Wien bleiben. Blieb er dann meistens doch.  Wenn man am Prater „ins Wasser“ ging, dann ist man damals am Strudel  unterhalb des Albernen Hafens hängengeblieben. Es waren so viele Leichen, die dort innerhalb von fast 120 Jahren angespült wurden, dass sie gleich zwei, wenn auch sehr kleine Friedhöfe füllen: Der Friedhof der Namenlosen entstand. Namenlos deshalb, weil viele der Leichen nicht mehr identifiziert wurden, niemand nach ihnen gesucht hat. In der prüden, katholisch fundierten Wiener Gesellschaft war Suizid ein Tabu. Den Wienern wird schon immer ein morbides Lebensgefühl nachgesagt, aber Selbstmörder wurden auch hier verabscheut. Bekamen keinen Platz auf dem Zentralfriedhof und waren keiner würdigen Beerdigung wert. Viele Suizidwillige vereinfachten den Weg zum Friedhof, der allein durch seinen Namen die Ausgestoßenheit und Zerissenheit der Toten symbolisiert, und erhängten oder erschossen sich direkt auf dem Friedhof oder in unmittelbarer Nähe. In die Donau gehen war auch irgendwann nicht mehr „in“. Heute dürfen sogar Selbstmörder auf dem Zentralfriedhof beerdigt werden. Da ist man in der Moderne nicht mehr so.



Das Kaffeehaus ist kein Ort an dem ein Suizidgefährdeter Trost findet, obwohl es ein Ort der Kommunikation sein soll. Ins Kaffeehaus kann man getrost alleine gehen und alleine bleiben. Die junge Generation sitzt die Probleme nicht mehr im Kaffeehaus aus, sie rennt ihnen mit ihren Coffee to go-Bechern davon. Keine Zeit und nicht die richtigen Worte, die anderen haben Zeit und bleiben auch stumm. In beiden Fällen wird an der Oberfläche der menschlichen Beziehungen gekratzt, zu jeder Zeit, und das macht Menschen, die mehr wollen als nur einen Kaffee und einen netten Plausch, zu Außenseitern.









Weihnachtliches Wien. Disneyland vertreibt morbiden Donaumonarchie Charme und viele Wiener ins Kaffeehaus.









Im Kaffeehaus steht die Zeit still.









"A verlängerter Brauner bittschön."







Der Mantel hängt auch noch die nächsten fünf Stunden, solange dauerts bis der verlängerte Braune richtig runtersackt.







Ma schaut so rum und beobacht de Leid und denkt so nach über die Zeit. Ja, mei...







Irgendwann geht ma dann doch. Lasst ois hinter sich, ois liegn und stehn.


Geht zum Zentralfriedoch oder früher zum Friedhof der Namenlosen, vorher hat ma noch am Wasser vorbeigschaut.

Ähnlich ruhig wie im Kaffeehaus ist es am kleinen Friedhof direkt an der Donau, der heute umgeben ist von Hafengebäuden. Kein Fußweg führt dort hin. Zirka zehn Kilometer von der Innenstadt vorbei an Hafenanlagen, durch Getreidesilos unter den gelangweilten Blicken der LKW-Fahrern bis ganz zum hintersten Winkel muss man sich durchschlagen. Die nächste Hauptattraktion dort draußen sind die städtischen Kläranlagen. Ein ganz besonderes Örtchen.


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