Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Ein Versuch

Text: molekel

Ich habe meine Armbanduhr verloren. Dies ist zunächst nicht schlimm, denn heutzutage springt einen die aktuelle Uhrzeit von überall her geradezu an: vom Smartphone-Display, von der Uhr an der U-Bahn-Haltestelle und natürlich von Gebäudefassaden. Aber den demonstrativen Blick auf die eigene Armbanduhr kann das nicht ersetzen. Nichts signalisiert den umstehenden Menschen mehr, dass ich dringend an der Uhrzeit interessiert bin, dass ich gerade eine ungewollte Totzeit habe und auf dem Weg zum nächsten Termin bin. Gerade wenn ich auf jemanden warte, schaue ich deshalb etwa alle 30 Sekunden demonstrativ auf die Uhr, gepaart mit einem genervten Blick oder einem tiefen Seufzer. Aber auch auf dem Weg zu einem Termin, selbst wenn ich weiß, dass ich pünktlich bin, kann ich davon nicht ablassen. Natürlich weiß ich, dass es keinen um mich herum interessiert, ob ich einen guten Grund habe, in der Gegend herum zu stehen, oder ob ich einfach nur in den Tag hinein lebe. Und wenn ich mal um drei Uhr nachmittags durch die Stadt gehe, dann heißt das ja nicht automatisch, dass ich einen lockeren Halbtagsjob habe und gerade am Shoppen bin. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich mir so eine Art Daseinsberechtigung schaffe.



Seien wir mal ehrlich: in der heutigen Zeit wird der Wert eines Menschen doch hauptsächlich darüber definiert, wie er seine Zeit verbringt. Wer sagt denn heutzutage noch stolz, dass er am Wochenende nur faul auf dem Sofa gelegen und einen zweitklassigen Krimi gelesen hat? Und wer erzählt seinen Freunden und Verwandten schon gerne, dass er eine stressfreie Arbeit (mit 35-Stunden-Woche) hat? Meistens übertrumpfen sich die Kollegen am Montag mit ihren Geschichten von schweren Kletterrouten in irgendwelchen Karwendel-Nordwänden. Und anschließend hat man eine epische Party-Nacht hinter sich gebracht, an die am Sonntag noch eine „gemütliche“ Skitour mit 1000 Höhenmetern angehängt wurde. Und natürlich arbeitet man unter der Woche mindestens 50 Stunden, man möchte ja nicht faul sein. Abends zieht man dann noch schnell 20 Bahnen in der Olympia-Schwimmhalle und abends entspannt man sich dann noch mit einer kleinen Nietzsche-Lektüre. Wer gibt denn gerne zu, dass er einfach auf dem Sofa amerikanische Serien anschauen möchte, ohne gleich hinterher zu schieben, dass er eine aufkommende Erkältung spürt? Wer schwärmt heutzutage noch von den Landschaften, die er aus dem ICE-Fenster betrachtet hat anstatt die fünf Stunden Zugfahrt durchzuarbeiten?



Nun habe ich aber meine Armbanduhr verloren, ich kann also meiner Umwelt nicht mehr zeigen, dass ich ein wichtiger Teil der Gesellschaft bin, mit verplantem Terminkalender und Stress und 50-Stunden-Woche. Da ich nun nicht mehr alle 30 Sekunden auf meine Armbanduhr schaue habe ich Zeit, mir die Menschen um mich herum anzuschauen und ich stelle fest: keinen interessiert es, ob ich Termindruck habe oder einfach nur in den Tag hinein lebe. Die meisten Menschen sind mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, mit ihren Problemen, ihrem Termindruck oder auch ihrer entspannenden zweitklassigen Krimi-Lektüre. Vielleicht brauche ich gar keine Daseinsberechtigung und der ganze Leistungsdruck ist hausgemacht? Das Leben ohne Armbanduhr gefällt mir auf jeden Fall sehr gut. Trotzdem trauere ich ein wenig um die Uhr, denn sie war nicht gerade billig.

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: