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Viel Lärm um nichts

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In diesem Text geht es um ein blödes Gefühl, ein paar unbequeme Wahrheiten und einen Irrtum. Das Gefühl ist irgendwas zwischen Angst, Zahnschmerzen und schlechtem Gewissen. Es ist nicht immer da, aber manchmal schon, und wenn es da ist, fühlt es sich an, als hätte ich zu Hause eine Herdplatte angelassen und die Feuerwehr ist schon unterwegs. 

Das Gefühl ist eine Ahnung, die eigentlich eine Gewissheit ist: Eines Tages fliegt alles auf. Eines Tages fliegt auf, dass ich in Wahrheit gar nichts kann. Dass ich bisher nur Glück hatte, ein paar günstige Zufälle ausgenutzt habe und die richtigen Schuhe trage. Nur daran liegt es, dass mir andere Leute Dinge zutrauen, Aufträge geben und Jobs anbieten. Weil sie glauben, dass ich das, was ich beruflich mache, auch beherrsche. Passabel, vielleicht sogar gut; auf jeden Fall aber souverän. 

Und eines Tages kommt einer, der mich durchschaut. Der sieht, dass ich keine Ahnung habe von dem, was ich den ganzen Tag mache; dass ich einfach nur das tue, was ich für richtig halte. Dass ich ein Blender bin, ein Schwindler. Obwohl ich überhaupt nicht geschwindelt habe. Nicht bewusst. Und wenn, dann bin ich auf meine eigene Schwindelei reingefallen.

Zuerst dachte ich, das Problem liege bei mir. Versagensangst, fehlendes Selbstbewusstsein, übersteigerter Ehrgeiz, vielleicht auch Verfolgungswahn, all das. Dann ging ich mit einem Kumpel Bier trinken, und nach dem vierten Bier beichtete er mir, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, mein Problem. Von dem er nicht wusste, dass es mein Problem ist – für ihn war es in erster Linie seines.

Und wir zwei sind nicht die einzigen damit.

„Hochstapler-Syndrom“ haben zwei amerikanische Wissenschaftlerinnen unser Problem vor rund 30 Jahren getauft. Sie befragten mehrere Dutzend Karrierefrauen und stießen dabei auf einen merkwürdigen Selbstzweifel: „Hilfe, die anderen glauben, ich sei gut. Dabei kann ich doch gar nichts – was, wenn das jemand merkt?“ Die Ursache des Hochstapler-Syndroms liegt angeblich in der Kindheit – schuld, heißt es, sind Eltern, die ihre Kinder nicht genug loben. Die nicht sagen: Dritter Platz, ist doch super. Sondern: Warum hast du nicht gewonnen?

Über den Status des blöden Gefühls ist das Syndrom auch in der Wissenschaft nicht wesentlich hinausgekommen. Und wie es sich für ein blödes Gefühl gehört, kriegt man es nicht unter Kontrolle.

"Eine kleine Umfrage unter Kollegen hat neulich ergeben, dass mehr als zwei Drittel von ihnen, wenn sie nachts einer anriefe und ins Telefon brüllte: ,Alles ist aufgeflogen!´, tatsächlich ihre Koffer packen und abhauen würden", schrieb einmal der Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Claudius Seidl. "Einfach deshalb, weil das die Furcht von uns allen ist. Dass uns irgendwer irgendwann mal draufkommt." Der Schriftsteller Neil Gaiman fürchtete, eines Tages werde ein Mann mit einem Klemmbrett vor der Tür stehen, „keine Ahnung, wozu, aber in meinem Kopf hat er ein Klemmbrett – und er würde sagen: Jetzt ist es vorbei, ich sei durchschaut, und jetzt müsse ich mir bitte einen anderen Job suchen.“ Einen richtigen Job, bei dem er früh aufstehen und eine Krawatte tragen müsse – und der nicht darin besteht, Dinge zu erfinden und aufzuschreiben, und Bücher zu lesen, die er ohnehin lesen wollte. Gaiman erzählte diese Geschichte in einer Rede an der University of the Arts in Philadelphia, man kann sie sich auf

ansehen. Natürlich ist bisher nichts davon passiert; mindestens in einem Punkt behält Gaiman trotzdem Recht: Das blöde Gefühl ist ein Erfolgsproblem – ein Zeichen dafür, dass es gut läuft. Man könnte das hinnehmen, sich freuen und weitermachen. Oder, und das ist die aufreibendere Variante, man kann sich Sorgen darüber machen. Weil es theoretisch jede Minute aufhören könnte, gut zu laufen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Der Punkt ist ja: Ob einer gut ist in dem, was er tut – dafür gibt es Kriterien. Leider sind die aber nicht immer klar. Ein guter Schreiner ist einer, dessen Stühle nicht zusammenbrechen und der eine Einbauküche so baut, dass sie problemlos eingebaut werden kann. Ein guter Friseur ist ein guter Friseur, ein guter Busfahrer ist ein guter Busfahrer, ein guter Rechtsanwalt . . . und schon wird es schwierig. Was ist ein guter Schriftsteller, ein guter Art Director, ein guter Personalchef, ein guter Sozialpsychologe? Das – und das gehört zu den unbequemen Wahrheiten – entscheiden immer die anderen.

Seine Bücher seien nur deshalb so erfolgreich, weil die anderen Romane, die auf den Markt kommen, so schlecht seien, sagte der Schriftsteller Michel Houellebecq einmal in einem Interview. „Die Leser kaufen halt das, was noch am ehesten etwas taugt.“ Er habe auch gar nicht entschieden, Schriftsteller zu werden. „Es sind“, und was jetzt kommt, ist banal, aber eine so große Wahrheit, dass sie in der Sonne funkelt – „es sind immer die anderen, die entscheiden, ob Sie ein Schriftsteller sind oder nicht.“ Es sind die anderen, die entscheiden, ob man schon reif ist, in die Schule zu gehen. Ob man lieber aufs Gymnasium gehen sollte oder lieber nicht, ob man zum Abitur zugelassen wird, welche Note auf dem Abschlusszeugnis steht, ob sie gut genug ist, um das zu tun, was du willst; ob du darin gut bist, ob du den Job kriegst, ob du ihn behältst. Oder nicht.

Du selbst hast dabei nichts zu sagen. Die einzige Frage, die du beantworten musst, lautet: „Trauen Sie sich das zu?“ Ich kann mich nicht erinnern, je mit der Antwort gezögert zu haben.

Eine gute Freundin, nennen wir sie Johanna, hatte einen Kollegen, Daniel. Johanna und Daniel arbeiteten beim Fernsehen, sie saßen am gleichen Schreibtisch und hatten die gleichen Aufgaben, über Monate hin. Sie machten zusammen Blödsinn und Überstunden, hatten zusammen mal gute Laune und mal schlechte, sie ärgerten sich manchmal und langweilten sich hin und wieder. Eines Tages wurde Johanna ins Büro ihres Chefs gerufen. Er bot ihr einen neuen, besseren Job an und, so erzählte sie danach, unverschämt viel Geld. Obwohl sie sich nicht sonderlich sicher war in dem, was sie tat. Am nächsten Tag wurde ihr Kollege Daniel entlassen, fristlos. Seine Arbeitsweise passe nicht in die Redaktion. Manchmal habe sie das Gefühl, sagt Johanna, sie schaffe das alles nur, weil alle sie nett finden.

Wenn es immer die anderen sind, die entscheiden, was man kann und wie weit man damit kommt – ist es dann wichtiger, kompetent zu sein oder kompetent zu wirken? Wenn nur immer das eine Rolle spielt, was man wirklich kann, und nicht auch die Art, wie man redet und wie man sich verkauft: Gäbe es dann so viele Erfolgsgeschichten, die genau darauf basieren? Gäbe es dann so viele Ratgeber, die einem dabei helfen wollen, sich gut zu verkaufen? Ratgeber wie „Alles Bluff!“ von Christian Saehrendt, auf deren Rückseite steht: „Müssen wir uns heute ständig selbst inszenieren und durch mehr Schein als Sein überzeugen, um überhaupt noch mithalten zu können?“

Es ist ja auch nicht so, dass die Angst, entlarvt zu werden, in jedem Fall unbegründet wäre. Sie ist es nicht. Wir alle werden andauernd entlarvt. Wir bluffen ja auch ständig.

Ich hatte eines Tages die E-Mail eines Kollegen im Postfach, ohne Betreff. Mein letztes Projekt, schrieb er, sei ja nun nicht sehr berühmt gewesen; falls es Leute gebe, die das anders sehen, dann hätten sie keine Ahnung, ich solle nicht auf sie hören. Stattdessen solle ich doch bitte aufhören so zu tun, als wüsste ich Bescheid. Er wisse, dass das Gegenteil der Fall sei.

Und ich weiß nicht, was schlimmer ist: dass ich mich den ganzen restlichen Tag über fühlte wie an dem Tag, als meine erste ernstgemeinte Beziehung kaputt ging? Dass der Kollege nicht nur in alle Richtungen unhöflich war, sondern erkennbar falsch lag (das Projekt, von dem die Rede war, kam bei den Leuten, auf die es ankommt, sehr gut an)? Oder, dass ich das, was der Kollege da schrieb, nicht sofort als Unverschämtheit erkannte, dass ich ihm nicht ein in Großbuchstaben geschriebenes „Selber!“ antwortete, sondern ihm sogar, natürlich, glaubte – nach zwei abgeschlossenen Ausbildungen, einem abgeschlossenen Studium und vielen, vielen überwundenen Hürden in genau diesem – meinem – Beruf? Tja. Auch da haben immer nur andere beschlossen, dass ich das, was ich mache, kann. Ich selbst habe einfach angefangen, und seitdem mache ich weiter.

Andererseits: Ich hatte ein paar Dinge falsch gemacht, es waren blöde Anfängerfehler – aber ich hatte gar nicht so getan, als wüsste ich Bescheid. Nicht absichtlich, nicht mehr als sonst. Ich hatte ein Sakko getragen und gute Schuhe, und, okay, ich war am ersten Tag zur Arbeit erschienen und an den folgenden Tagen auch.

Ist das schon Bluff?

Ich habe mich an die Codes, die in meinem Beruf üblich sind, gehalten; habe Wörter verwendet, die alle verwenden, habe mich an die goldene Regel gehalten: Ich traue mir auch Dinge zu, bei denen ich nicht sicher bin, ob ich sie bis zu Ende beherrsche. Und natürlich sage ich nicht: Es ist wahrscheinlich, dass ich scheitere. Ich bin ja nicht blöd, keiner macht das. Ich weiß ja: Was auch immer es ist, was ich kann – wenn mir niemand glaubt, dass ich es kann, wird es mir nicht viel nützen.

Ja, wahrscheinlich ist das Bluff. Und jeder, der etwas anderes sagt, irrt sich gewaltig. Nur: Weil ich bisher viel häufiger nicht entlarvt worden bin, habe ich längst den Überblick verloren – darüber, was ich kann, und was ich so lange zu können behaupte, bis jemand das Gegenteil beweist. Vielleicht ist es manchmal gar nicht so schlecht, entlarvt zu werden. Als eine Art innere Inventur – was will ich verkaufen, und wie viel ist wirklich da?

In welcher Einheit misst man den Abstand zwischen dem, was andere einem zutrauen, und dem, was man sich selbst zutraut? Vielleicht ja: in Talent.

Es gibt wahrscheinlich nur einen echten Ausweg, eine Lösung. Sie ist simpel, aber wirkungsvoll. Viele Millionen Menschen beherzigen sie täglich. Und sie passt in ein Wort. Es lautet: Weitermachen.

Text: alexander-hirschmann - Foto: kallejipp/photocase.com

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