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Am Rande unserer Welt

Text: danny_mahony

Morgens, kurz vor 9 Uhr fuhr der Bus am Hafen von Tórshavn ab. Für dortige Verhältnisse ist die Haupstadt der Inselgruppe mitten im Nordatlantik mit seinen knapp 13.000 Einwohnern eine riesige Stadt – auf den Färöer-Inseln, wo jedes größere Gehöft gesondert als eigener Ort auf Landkarten verzeichnet ist. Daher hielt der Bus noch ein zweites und ein drittes Mal innerhalb der Stadtgrenzen, bevor er auf der schmalen, direkt in den Fels gehauenen Straße um die Ecke bog und vor uns nur noch die riesigen Fjorde mit dem gewaltigen grünen Steilklippen und dem dazwischen wogenden Meer lagen. Die Szenerie wirkte noch bedrohlicher, da an den oberen Bergwipfeln jeweils dichte schwarze Regenwolken hingen, wodurch die Felsen die einzigen Orientierungspunkte für die Augen darstellte. Wäre der Himmel zu sehen gewesen, so hätte dies die Perspektive relativiert, und man hätte die Situation um einiges normaler beurteilt. Aber so war man geplättet und beinahe eingeschüchtert von der Gewalt der Natur.





In unregelmäßigen Abständen durchfuhr der Bus nun längere und kürzere Tunnel, um von einem Fjord in den Nachbarfjord zu gelangen. Und plötzlich, mitten im Nichts, hielt er an einer einsamen Bushaltestelle und blieb stehen. Nach etwa zwei Minuten näherte sich aus der milchig-weißen Ferne ein weiterer blauer Bus und einige Passagiere wechselten vom einen in das andere Gefährt. Doch dann wieder einsame Steilklippen. Irgendwann überquerten wir einen Berg über eine Art Pass, da an dieser Stelle wohl kein Tunnel in den Fels gesprengt worden war. Nach dem Kulminationspunkt führte die Straße wie an den Felsen gekettet langsam nach unten. Rechts die steile Klippe, links der Abhang, der direkt im Meer endete.





Doch plötzlich, hinter einem weiteren Felsvorsprung, tauchte im färingischen Nebel eine Bucht mit einem größeren Ort auf – Vestmanna. Das Panorama war atemberaubend: Die steil abfallende Küstenstraße, das Meer, die kleinen Häuser in der Ferne. Langsam kam der Bus diesen näher und hielt schließlich an mehreren Anlegestegen am Beginn des Ortes. Wie die meisten anderen Passagiere verließ ich den Bus hier und ging in Richtung der Stege. Dort wartete abfahrbereit bereits ein kleineres Ausflugsboot auf uns Nachzügler. Nach wenigen Instruktionen ging die Fahrt los. Mit unserem kleinen Boot machten wir uns auf den Weg, den Fjord in Richtung offenes Meer zu verlassen. Auf den grün bewachsenen Felsen standen Pferde und guckten uns neugierig an. Und natürlich Schafe, viele Schafe. Nicht umsonst bedeutet der Name des kleinen Landes im Deutschen "Insel der Schafe".





Unser Führer erzählte uns auf der schaukelnden Fahrt hinaus aus der Bucht, dass der gemeine Färinger einen Tick hat: Wenn er ein irgendwo ein Stück Grad sein Eigen nennt, dann muss dieses von einem Schaf bevölkert werden. Egal, ob dieses Stück Gras nun direkt vor seinem Haus oder hoch oben in der Mitte der Steilklippe mit Blick auf den Nordatlantik liegt. So fahren im Frühjahr die Färinger mit ihren Booten und ihren Schafen hinaus aufs Meer. Hängen diese dann nacheinander an im Fels verankerte Flaschenzüge und verfrachten sie so nach oben. Das färingische Schaf erträgt diese Prozedur gewohnheitsmäßig mit nordischer Gelassenheit und darf sich dann auf einen grasreichen "Sommer" in luftiger Höhe freuen. Im Herbst holt man sie dann wieder ab.





Plötzlich tauchten links einige bunte Häuser auf, eines war als kleine Kirche zu erkennen. Doch diese Siedlung waren bereits vor Jahrzehnten verlassen worden, da man sie seit jeher nur mit dem Boot oder per Wanderung über den Berg erreichen konnte. Irgendwann entschlossen sich die Bewohner, dieses mühevolle Leben (noch mehr) abgeschnitten von der Zivilisation aufzugeben. Und so holt sich die Natur nach und nach das zurück, was vor dem Eintreffen der Menschen schon ihres war, und bald wird man dort nur noch Steinbaracken sehen, die von einer anderen Vergangenheit erzählen.





Unser Boot fuhr weiter, sanft schaukelnd auf den dunkelblauen Wogen des Meeres. Ab und zu tropfte uns kalter Sprühregen auf den Kopf, oder war es doch eine etwas größere Welle, auf die unser Boot aufsetzte? Diese Überlegungen wurden jäh unterbrochen, als wir das Ende des Fjordes erreicht hatten und nach rechts abbogen. Plötzlich tauchten sie auf, die Vogelfelsen von Vestmanna. Unser Führer kommentierte dieses unfassbare Naturschauspiel skandinavisch-lakonisch: "Rechts ragen die Klippen 400m aus dem Meer, links ist bis Amerika nur offenes Meer...". Die Bedeutung dieses Satzes blieb in diesem Moment von uns unverstanden, weil wir viel zu sehr damit beschäftigt waren, all die Details der Szenerie wahrzunehmen: Die Vögel, die überall in den Felsen ihre kleinen Nester gebaut hatten. Der schroffe Fels, der vom Jahrtausende alten Meer in die bizarrsten Formen gebracht wurde. Wir fuhren in eine kleine Höhle hinein, unter einer natürlichen Felsbrücke hindurch, hinter einer freistehende Steilklippe vorbei. Unsere Köpfe waren durchgehend nach oben gerichtet, der Regen war nun egal, auch wenn er uns direkt in die Augen spritzte und floss, wir versuchten die Spitze der Klippen zu erkennen, zu entdecken. Es gelang uns nicht.





Irgendwann fuhren wir zurück nach Vestmanna. Bis zur Abfahrt des Busses zurück in die Hauptstadt blieb noch etwas Zeit, so lief ich durch den kleinen Ort. Grasbewachsene Dächer, eine strahlend-goldene Katze, schnatternde Gänse. Aber kein Mensch zu sehen. Zurück an der Bushaltestelle traf ich auf eine ältere Frau, die mir bereits auf dem Hinweg aus Tórshavn aufgefallen war und die ebenfalls mit dem Boot bei den Steilklippen gewesen war. Wir kamen ins Gespräch und sie erzählte mir von ihrem Leben. Sie war Norwegerin und lebte eigentlich in ihrer Heimat an der Südküste. Aber seit sie pensioniert war, unternahm sie jedes Jahr im Sommer eine längere Reise – mal auf der nord-norwegische Inselgruppe Lofoten, mal nach Island, mal auf die Färöer-Inseln. Unterwegs war sie allein, mit einem Rucksack und einem Zelt. Auf meine ungläubige Nachfrage, ob das nicht gerade in diesen Breitengraden etwas ungemütlich sei, meinte sie nur: "Ach was, im Winter wäre es noch viel schlimmer!" Sie sprach sogar einige Worte Deutsch, mit einem wundervollen norwegisch-bayerischem Akzent. Warum? Sie hatte ihren früheren Beruf der Kindergärtnerin im Allgäu gelernt, vor vielen Jahrzehnten. Ein paar Brocken Deutsch blieben hängen und wurden in letzter Zeit wieder etwas häufiger von ihr benutzt: Ihr Sohn lebte mittlerweile in Berlin ("Da will jeder junge Norweger momentan hin!") und hatte sogar eine deutsche Freundin. Im Herbst wollte sie ihn wieder besuchen.



Dann tauchte aus der feucht-nebligen Stille unser Bus auf, der uns zurück bringen sollte. Ich stieg ein mit der Gewissheit, dass ich so einen beeindruckenden Menschen, mit so einer faszinierenden Geschichte, nur hier in Vestmanna auf den Färöer-Inseln treffen konnte: Ganz am Rande unserer europäischen Welt.

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