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Künstler-Selbsthilfe am Kneipentisch

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Das Provisorium in der Lindwurmstraße 37 ist in kühles Aufbaulicht getaucht, einige Tische und Bänke werden zusammengeschoben. Die als „Kunstbar“ konzipierte Zwischennutzung im Erdgeschoss eines Altbaus soll heute Schauplatz der ersten Münchner Icarus Session sein, während zur gleichen Zeit in verschiedenen Städten weltweit ähnliche Treffen stattfinden. Je nach Interesse und Größe der Veranstaltung – ob in Tokio, Sofia oder auf den Kaimaninseln – kommen zehn, fünfzig oder über hundert Nachwuchskünstler zusammen und haben je 140 Sekunden Zeit, ihr Projekt zu präsentieren. Im Provisorium findet allerdings kein Bühnenabend mit langer Anmeldeliste statt. Das mache nur Sinn, wenn wie etwa in New York sehr viele Gäste und Künstler erwartet würden, erklärt der Veranstalter Andreas Kopp. Die Münchner Session mutet eher wie ein kleiner, intellektueller Stammtisch von eingefleischten Fans der Kreativszene an. Und trotzdem ist sie aufschlussreich.

Das "Provisorium" in München - der Name ist Programm.

Die Icarus Sessions wurden vom Amerikaner Seth Godin ins Leben gerufen, der sich mit Internet- und Marketingthemen sowie Kreativität und Inspiration beschäftigt und darüber bloggt. Er ist Autor verschiedener Bücher, zuletzt erschien „The Icarus Deception“, eine Art philosophischer Ratgeber über Motivation in Zeiten der Wirtschaftskrise. Seiner Idee globaler Meetups folgen Veranstalter auf der ganzen Welt schon seit Jahren. Bei den Icarus Sessions geht es – ähnlich wie bei Science- oder Business Slams – darum, Menschen ein Podium für ihre Ideen zu geben. Allerdings sollen sich die jungen Künstler hier nicht „verkaufen“, sondern sich in all ihrer Verwundbarkeit präsentieren und auch von den Schwierigkeiten und Problemen ihrer Projekte erzählen. Es geht darum, „den Mut zu finden, aufzustehen und zu sagen: ‚Hier, das habe ich gemacht. Es hat mich eingeschüchtert. Vielleicht funktioniert es nicht. So hat es mich verändert. Was denkt ihr darüber?’“, wie es auf der Homepage der Icarus Sessions heißt.

Diese neue Idee stehe in Opposition zu anderen Treffen, sagt Andreas Kopp: „Auf vielen Meetups oder Konferenzen erzählen die Leute, wie toll ihr Business ist, wie viele neue Nutzer sie bekommen haben, wie viel Umsatz sie gemacht und welchen Investor sie gefunden haben. Und danach gehen die einfach und haben überhaupt kein Feedback bekommen. Wenn jemand aber erzählt, welche Projekte gescheitert sind und warum, lerne ich daraus viel mehr.“ Der Name Icarus Sessions spielt natürlich auf den mythologischen Ikarus an, der mit seinen Wachsflügeln abstürzte, als er sich zu sehr der Sonne näherte. Man soll seine Ideen, Träume, Projekte verwirklichen – auch wenn die Möglichkeit zu scheitern, „abzustürzen“ immer gegeben ist.

Im Provisorium sitzen vier bis fünf Nachwuchskünstler zusammen an einem Tisch, auf dem sich Bierflaschen, Smartphones und Notizblöcke befinden. Es gibt weder einen offiziellen Startschuss noch eine Einführung zum Prozedere der Präsentationen. Nach fünf Minuten ist Andreas Kopp schon längst dabei, sein Projekt zu erklären. Sein Spezialgebiet ist Kunst mit Post-Its, er zeigt auf seinem Handy einige der überdimensional großen Portraits, die er mit hunderten oder gar tausenden kleiner farbiger Klebezettel anfertigt, und erzählt von seiner Hommage an Steve Jobs, die er in einem Stop-Motion-Video festgehalten hat. Schnell fängt eine Diskussion an, wie essentiell wichtig der Austausch mit ähnlich denkenden kreativen Menschen ist – ob auf Konferenzen, in Facebookgruppen oder in der nächsten Eckkneipe. Online-Social-Networks und Plattformen wie Creative Coding seien hilfreich, aber der direkte, konkrete Kontakt vor Ort ermögliche natürlich die beste Zusammenarbeit.

 

Bei diesem Aspekt geht das Wort an Florian Lorétan aus der Schweiz, der von seinem internationalen Bandprojekt erzählt. Er hat im vergangenen Jahr alle Aufgaben, die mit Musikmachen einhergehen – vom Songwriting bis zur Vermarktung – beinahe im Alleingang erledigt. Dass das kaum möglich sei, habe er jetzt verstanden, aber es sei schwierig, die Kontrolle abzugeben, wenn es sich um ein Herzensprojekt handele. Zustimmendes Nicken aller Beteiligten. Dann ist Javier Gracia Carpio an der Reihe. Er beschäftigt sich mit 3D-Fotografie und neuen Kameratechnologien[/link] und erzählt vom UAMO art festival, das er im Februar in München besuchen will. Als letzter spricht Isauro Ali López aus Mexiko, der zwar an keinem konkreten Projekt arbeitet, aber gerade für zwei Monate an der TU München an einem Design-Workshop teilnimmt. Keiner der am Tisch sitzenden lebt von der Kunst, aber sie ist für alle mehr als ein Hobby.

 

Auch wenn dieses Treffen nicht exakt abläuft wie das Konzept der Icarus Sessions es vorsieht, wird der Grundgedanke doch durchgesetzt: Nachwuchskünstler erzählen von ihren Ideen und legen deren Schwachstellen frei. Es folgt eine engagierte Diskussion der anderen, die versuchen weiterzuhelfen, neue Wege aufzeigen, Ideen in den Raum werfen oder potentielle Ansprechpartner empfehlen, mit denen man zusammenarbeiten könnte ("Ich kenn' da einen Grafiker..." oder "Ein Freund von mir kann super schneiden..."). Konkurrenzdenken ist nicht zu spüren, jeder scheint sich aufrichtig für die Arbeit des anderen zu interessieren.

 

Wenn das Gespräch auf Seth Godin, den Urvater der Meetups kommt, könnte man meinen, er sei eine Art Gott oder Guru für seine Anhänger und seine Bücher und Blogposts eine Bibel der Kreativwirtschaft. Andreas folgt ihm seit etwa sechs Jahren. "Seth ist jemand, der sehr gut beobachten kann, wie eine Situation ist, und er erklärt sie dir mit besseren Worten als jeder andere, den ich kenne. Das Coole ist, dass er dir jeden Tag eine Art Golden Nugget hinwirft und du denkst dann: 'Stimmt, so hab ich noch gar nicht darüber nachgedacht'. Entweder sind es Aphorismen oder ganz praktische Tipps. "Ein Guru sei Godin aber nicht." Für mich ist er eher wie ein Mentor. Wie eine Stimme, die mir ab und zu sagt, du musst wieder auf den richtigen Weg kommen, dir Ziele setzen wie: Ich werde maximal 2000 Euro in dieses Projekt investieren und keinen Cent mehr.Was können Treffen wie die Icarus Sessions jungen Künstlern im besten Fall geben? Was ist die Idealvorstellung? "Jemand hat ein konkretes Problem, für das er eine Lösung sucht. Vielleicht ist auf der Session ein anderer, Ähnlicher Künstler, der genau dieses Problem schon bei einem Projekt gelöst hat. Das wäre ideal", sagt Andreas Kopp. Die Icarus Sessions sind zwar noch keine Bewegung, aber ein Beispiel der aktiven Umsetzung einer größeren Idee: Es geht nicht darum, sich perfekt darzustellen. Es geht darum, Probleme zu lösen und seine Schwächen offen zu zeigen. Sonst endet man wie Ikarus aus dem Mythos.

 
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