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Der junge Rentner

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Christian Baumeier habe ich als @wally44 auf Twitter, wie soll man sagen, ja: kennengelernt. Da ich nicht zu den Menschen gehöre, die noch einen Unterschied zwischen digitalem und so genanntem echten Leben machen, ist es wohl der richtige Ausdruck. Hier wie dort inszenieren sich Menschen. Posten tolle Fotos von gutem Essen, sagen in welchem In-Club sie feiern oder bestechen durch Witz. Immer geht es darum, sich im bestem Licht darzustellen. Schließlich leben wir in einer vollkommen entgrenzten Leistungsgesellschaft, in der Freizeit nur eine andere Form von Arbeit an sich selbst und seinem Image ist. 

  Genau deswegen stach Christian heraus: Nicht weil er den besten Humor hatte, die geschmackvollsten Bilder von Tiefkühl-Pizzen postete oder sich als den größten Menschen unter Sonne darstellte. Nein, er tat das Gegenteil: Auf Twitter und Facebook konnte ich seine Krankengeschichte verfolgen. Unter seinem Internet-Nick @wally44 zeigte er der Welt da draußen dicke Verbände, Schmerzmittel und die allgemeine Tristesse des derzeitigen deutschen Gesundheitswesens. Das Krankenhaus als genau getaktete Zeitmaschine, in der alles genau festgelegt ist. Infusion setzen: drei Minuten, Medikamente verteilen: zwei Minuten, ein liebes Wort: null Minuten. Wie ich den Posts entnehmen konnte, wurde Christian etwas amputiert. Was es war, wurde aus seinen Einträgen und Fotos nicht ganz klar. Es hätte ein Bein, eine Hand oder ein anderes Körperteil sein können. Ein letztes Stück Privatsphäre in der Welt der Post-Privacy.
  Schließlich – Christian war nach mehreren Wochen Krankenhaus wieder zu Hause – verkündete er auf Twitter, dass er jetzt wohl bald Rentner sein würde, da sein Krankengeld nach eineinhalb Jahren ausläuft. In einer Zeit, in der alle über die Rente mit 67 diskutieren, stand er nun mit nur 29 Jahren vor dem Vorruhestand. In seinem Alter fangen andere gerade an, an ihrer Karriere zu basteln. Für ihn war zunächst mal Schluss. Das war der Moment, an dem ich Christian persönlich kennen lernen wollte. Ich setzte mich in die S-Bahn und fuhr in den Nordosten Berlins.

 Hohenschönhausen ist das Berlin, das nichts mit der Hipster-Metropole im Zentrum zu tun hat. Es ist ein kleinbürgerliches Idyll am Rande der Hauptstadt mit gepimpten Plattenbauten und den unvermeidlichen vietnamesischen Zigarettenverkäufern. Man ist überrascht, dass die noch nicht komplett weggentrifiziert wurden. Kann man illegale Zigaretten nicht längst auch online bestellen? Hier also lebt Christian Baumeier seit 1986. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



  Auf Krücken begrüßt mich ein echter Mensch und eine Projektion meiner Vorstellungen von @wally44. Wahnsinn. An seinen beiden Füßen trägt er dicke Verbände. Christian ist ein großer Mann, mit riesengroßen Händen. Hände, die er früher in seinem Beruf als Zerspannungs-Mechaniker eingesetzt hat und die heute bedächtig auf seinen Krücken lehnen. Er zeigt mir ein Foto auf dem er als Lehrling neben Gerhard Schröder steht. Sehr stolz. Und sehr gesund.
  Christians Leidenszeit fing vor etwa drei Jahren an. Plötzlich hatte er Schmerzen an den Füßen. Nach der Arbeit waren sie rot und geschwollen. Zunächst schien alles eher harmlos, erst mit der Zeit wurde es schlimmer. „Zuerst denkt man sich nichts, aber es hörte nicht auf und ich ging schließlich zum Arzt.“, meint er in seiner trockenen Art dazu. Bei ihm wurde Osteolyse festgestellt. Eine Krankheit, bei der sich der Knochen auflöst, eigentlich eine Alterserscheinung. Ein großer Zeh musste ihm amputiert werden. „Aber man sieht das erst gar nicht, weil ein Riesenverband drum rum ist.“ So merkte er erst gar nicht, was geschehen war. Irgendwann fragte er eine Krankenschwester, was eigentlich mit seinem Zeh passiert sei? „Der wurde verbrannt“, war die Antwort. 

  Nach seinem ersten Krankenhaus-Aufenthalt sollte sich Christian langsam wieder in seinen Beruf einarbeiten. Doch sein Arbeitgeber brauchte jemanden, der acht Stunden an der Maschine steht. So kehrte er für einen Tag an seinen Arbeitsplatz zurück und wurde am Ende des Tages sofort entlassen. „Da habe ich geheult, weil ich durch die Krankheit sowieso schon psychisch angeschlagen war.“ Weil Christian in der IG Metall ist, ließ er es auf einen Arbeitsprozess ankommen. Er verlor. Die Kündigung war rechtens, aber aus Christians Sicht nicht gerecht. Er bekam keine Abfindung und lebte weiterhin vom Krankengeld. Denn die Probleme mit seinen Füßen hörten nicht auf. Im August 2012 bekam er wieder hohes Fieber und man stellte fest, dass auch der zweite große Zeh wegen Osteolyse amputiert werden muss. „Schlimm war’s nicht, eher: es ist halt jetzt so.“ Das hört sich abgeklärt an, aber natürlich nahmen ihn die Amputationen seelisch mit, vor allem, wenn er nach den Krankenhausaufenthalten wieder in seine kleine Wohnung zurückkehrte. „Dann fällt man in ein Loch.“ Ein Loch namens Alltag. Zwischen Postern des Musikers Gigi D’Agostino und Eishockey-DVDs aus der NHL hängen Erinnerungen an bessere Zeiten in der Luft. Erst hier merkt er, was er mit seinen beiden Zehen verloren hat: Eigenständigkeit. Täglich wechselt ein Pflegedienst die Verbände, einkaufen und duschen kann Christian nur mit Hilfe seiner Mutter. Aus Christian Baumeier wird nun bald ein Rentner. Keiner, der mit 67 in Ruhestand geht, sondern mit 29. Er versucht das positiv zu sehen. „Lieber bin ich Rentner, als jemand der Hartz IV bezieht“, sagt er in einem Tonfall, in dem das kleinere Übel mitschwingt. Christian weiß, dass er niemals mehr in seinem erlernten Beruf arbeiten wird. Dafür versucht er es jetzt im Bereich der sozialen Medien. Er berät Politiker bei deren Auftritten in Netzwerken, daneben ist er ehrenamtlich für die SPD als Bürgerdeputierter in der Bezirksverordnetenversammlung Lichtenberg aktiv. Für ihn soll die Rente nur eine Brücke sein, um hoffentlich wieder selbst Geld verdienen zu können. Irgendwann.

  Ich verlasse Christian und gehe zur S-Bahnstation. Die vietnamesischen Zigarettenverkäufer suchen Blickkontakt, die Billig-Blumen im Untergeschoss lächeln mich erfolglos an. Kaum stehe ich auf dem Bahnsteig postet @wally44: „Habe dem @siegstyle gerade meine ganze Krankengeschichte erzählt.“ Da spüre ich, wie wichtig es ist, auf eigenen Füßen stehen zu können. Vor allem ohne große Zehen.

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