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Mixtape-Kai und Simon&Garfunkel

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Mixtape-Kai
Ich habe Kassetten einiges zu verdanken. Unter anderem die Entwicklung eines Musikgeschmacks.
In der Schule und auch noch ein paar Jahre später war mir Musik ziemlich egal. Ich war eine geradezu manische Leserin und aus unerfindlichen Gründen der Meinung, mehr als eine Freizeitbeschäftigung würde nur zu Verzettelung und mangelnder Konzentrationsfähigkeit führen. Das änderte sich, als ich meinen Freund Kai kennenlernte. Der war ein paar Jahre älter als ich, sah aus wie der jüngere Bruder von Lemmy Kilmister und begann schon bald, mich mit Mixtapes zu versorgen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die gute, alte Kassette war vor allem in Form eines Mixtapes sehr beliebt.

Kai hat das, was man einen eklektischen Musikgeschmack nennen könnte: Er mag erstaunlich viele und erstaunlich unterschiedliche Genres und nicht immer erschließt sich der Appeal der Musik gleich, aber ich habe gelernt, ihm zu vertrauen, weil ich bisher immer irgendwann kapiert habe, warum ein Song gut ist. So eklektisch wie sein Musikgeschmack waren auch die Tapes, die er mir aufgenommen hat: The Cramps folgten auf Patsy Cline, Hank Williams auf Ella Washington. Am Anfang konnte ich mit der Hälfte der Songs kaum etwas anfangen. Und hätte er mir die Tapes als Mix-CDs aufgenommen, ich hätte bestimmt all die Songs übersprungen, die mir beim ersten Anhören nicht gefielen. Aber diese Option ist bei Kassetten kaum möglich, also war ich gezwungen, die Tapes so anzuhören, wie sie aufgenommen worden waren. Und weil ich sie immer wieder hörte, begann ich in der Regel irgendwann, auch die schwierigeren Songs zu mögen.
Nicht lange danach fing ich an, mir eine eigene Plattensammlung zuzulegen. Kais Mixtapes waren sozusagen die Grundsteine dieser Sammlung. Bis heute bewahre ich sie in einer kleinen Kiste auf. Angehört habe ich sie allerdings seit Jahren nicht mehr.
christina-waechter


Einschlafhilfe
Als ich klein war, hatte ich drei Koffer mit Kindermotiven drauf, in denen ich Hörspielkassetten sammelte. In einem all die gelb-roten des Labels „Kiosk" (das heute „Kiddinx" heißt): Benjamin Blümchen, Bibi Blocksberg, Bibi und Tina. In den anderen beiden Die Fünf Freunde, TKKG und Die drei Fragezeichen sowie ein paar Märchen- und Kinderliederkassetten, die ich aber nicht leiden konnte. Im Laufe der Jahre wurde aus diesen Koffern zwar einiges an kleine Cousins verschenkt, aber die wichtigsten Kassetten habe ich behalten. In meinem Zimmer steht heute ein Karton, der bis obenhin voll ist mit Geschichten, die ich auswendig kann.

Einige meiner Kassetten liegen immer griffbereit neben der alten Stereoanlage mit Kassettendeck. Denn auch, wenn sich zwischen meinem sechsten und meinen sechsundzwanzigsten Lebensjahr einiges getan hat, eines ist gleich geblieben: Ich kann ohne Hörspiel nicht einschlafen. Ich muss zugeben, mittlerweile habe ich diverse Drei Fragezeichen- und Bibi Blocksberg-Folgen auch in digitaler Form, schließe oft am Abend mein Handy an die Boxen an und kann auch, wenn ich auswärts schlafe, eine Folge hören, ohne einen alten Walkman reaktivieren zu müssen. Aber immer wieder greife ich eben auch zu den Kassetten. Ich habe Lieblingsfolgen darunter und ich weiß, bei welchen das Band so sehr in Anspruch genommen wurde, dass der Ton fast nicht mehr zu hören ist. Die Geschichten sind mir unendlich vertraut und ich schlafe dabei gut und ruhig ein, weil es so ist, als säße jemand, der einem sehr lieb ist, neben dem Bett und erzählte eine Geschichte.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Hörspielkassetten jemals aus meinem Leben verschwinden werden. Manchmal erweitere ich die Sammlung sogar noch. Kassetten sind das einzige, was ich auf Flohmärkten kaufe und in den Wühlkisten großer Discounter suche. Jetzt, wo ich weiß, dass es bald keine Kassettenrekorder mehr zu kaufen gibt, werde ich meine kleine alte Anlage besonders gut pflegen, damit sie mir die gesammelten Geschichten, die ich mein eigen nenne, noch ganz lange erzählen kann.
nadja-schlueter



Kein Kassettenmädchen
Das Ende des Kassettenrekorders betrübt mich nicht, es erleichtert mich eher. Meine Beziehung zum Medium Kassette kann nämlich nur als belastet beschrieben werden. Es gibt einen hübschen Text von Benjamin von Stuckrad-Barre namens "Kassettenmädchen", den ich unglücklicherweise zum ersten Mal in einem kritischen Pubertätsunsicherheitszustand las. Stuckrad-Barre erzählt darin, mit wie viel Ehrgeiz, Schweiß und Akribie verliebte Jungs Mixtapes für die Angebetete zusammenstellen. Diese Tapes sind natürlich versteckte Liebeserklärungen an die Beschenkte. "Kassettenmädchen" sind jene jungen Damen, die so viele von diesen Tapes erhalten, dass sie damit ganze Schuhkartons füllen können (die sie extra zum Zweck der Kassettenmädchen-Kassetten-Lagerung bunt bekleben, schreibt Stuckrad-Barre).

Danach war mir klar, dass mit meinem Liebesleben etwas ganz grundsätzlich nicht stimmen konnte: Mir hatte schließlich noch nie jemand auch nur ein einziges Mixtape kompiliert. Was mir zuvor nicht einmal aufgefallen war, erschien mir nun wie ein großer Makel. Ich neidete von jetzt an unzähligen imaginären Kassettenmädchen, die durch meinen Kopf spukten, ihre Kassettensammlungen. Ich wurde unsicher, als mir dann etwas später mein erster richtiger Freund keine Kassetten aufnahm. War er vielleicht gar nicht wirklich in mich verliebt? Oder war ich einfach zu uncool, eines Mixtapes nicht würdig? Die recht naheliegende Erklärung, dass ich mich sehr viel mehr für Musik interessierte als er, kam mir nicht in den Sinn.

Es blieb dabei: Eine Kassette bekam ich nie. Spätere Freunde haben mir dann immerhin noch die eine oder andere CD gebrannt und in jüngerer Vergangenheit kam auch mal eine Spotify-Playliste dazu. Aber zu diesen Compilations gibt es keine so hübschen Texte und erst recht keinen Mythos. Es ist also einfach nicht das Gleiche. Ich spekuliere daher darauf, dass mit dem Kassettenrekorder bald auch die Kassetten und dann womöglich endlich die Reste meines Kassettenmädchen-Komplexes verschwinden.
juliane-frisse


Wunderwerk der Technik
Ich besitze ziemlich viele Kassetten. So viele, dass ich mir tatsächlich mal ein Kassetten-Regal für mein WG-Zimmer gebaut habe – das will was heißen, denn ich bin in handwerklichen Angelegenheiten in etwa so begabt wie Lothar Matthäus im Führen jahrzehntelanger Liebesbeziehungen. Oben auf diesem Regal lag eines meiner wichtigsten und treusten elektronischen Besitztümer: mein Walkman. Auf dem Fahrrad in die Uni, in der U-Bahn in die Innenstadt, beim Joggen, auf der Fahrt zum Fußballauswärtsspiel – er war immer dabei. Ich hatte nie einen Discman (oder gar einen Minidisc-Player). CDs erschienen mir zu anfällig für Kratzer und damit nicht so tauglich für unterwegs, das Format des Geräts und der Tonträger nicht jackentaschenkompatibel, und bei meinem  Walkman musste ich mir im Gegensatz zu all den Discman-Menschen keine Gedanken machen, ob die „Anti-Schock“-Funktion auch auf Kopfsteinpflaster noch ihre Arbeit machte. Tatsächlich habe ich wahrscheinlich mehr Kassetten auf dem Walkman abgespielt als auf dem Kassettendeck zu Hause, wo ich meistens den CD-Turm und später die Musikbibliothek auf dem Rechner anzapfte. Kassetten waren für mich immer eher ein Unterwegs-Ding.

Insofern ist die Nachricht vom Ende des Kassettenrecorders nicht ganz so schlimm für mich. Denn weil mein Walkman kaputt ging, als die meisten Menschen schon mit MP3-Playern herumliefen, kaufte ich mir einen neuen und bin insofern noch relativ modern ausgestattet. Ich kam mir beim Kauf schrullig, aber auch ein bisschen retro-cool vor und war sehr begeistert von diesem Wunderwerk der Technik. Der neue Walkman konnte so wahnsinnige Dinge wie bis zum nächsten Lied spulen, und drehte die Kassette automatisch um. Mittlerweile ist er trotzdem vom Smartphone abgelöst worden und liegt in einer Elektro-Kiste in einer Schublade. Das Kassettenregal habe ich nach dem letzten Umzug auch nicht mehr aufgehängt, die vielen Tapes stapeln sich in einer Kiste im Keller. Aber ich kann alles jederzeit hervorholen und mich aufs Fahrrad schwingen.
christian-helten

Oldie-Zwang
Kassetten verbinde ich mit jahrelangem unfreiwilligem Musik-Außenseitertum. Neulich habe ich eins von diesen Freundschaftsbüchern gefunden, die man in der Unter- und Mittelstufe immer an Leute verteilt hat, mit denen man zwei Wochen lang „bf“ war, bis der- oder diejenige von der nächsten Clique verschlungen wurde. Solche Freundschaftsbücher sind in der Regel irgendwann von irgendwem nicht zurückgegeben und dann nie wieder gesehen worden. Meins ist wieder aufgetaucht, in gruseligem Diddl-Gewand, und es dokumentiert vor allem eines: Was Mädchen in meiner Klasse mit 13 cool fanden. Beim Thema Musik doppeln sich Boybands, Alexander Klaws oder schlicht das Wort „Charts“ als Definition eines wenig ausgereiften Musikgeschmacks. Ist ja nicht schlimm, so waren wir alle in dem Alter, oder? Naja, ich wäre es vielleicht gerne gewesen.  

Nicht, dass ich groß etwas anderes in die„Finde ich cool“-Spalte geschrieben hätte, man wollte ja dazugehören. Ich besaß durchaus die ein oder andere Britney-Spears-Maxi-CD und ich glaube sogar mal eine von B3. Aber so richtig mitreden, was die Schulhof-Charts-Gespräche anging, konnte ich nicht. Was eindeutig nicht meine Schuld war. Schuld war Papa. Schuld waren lange, sehr lange Autofahrten im Urlaub, in denen aus einer riesigen Kassettenbox diverse mit „ Best of Beatles“, „Crosby, Stills And Nash“, „Best of Rolling Stones“ oder „Ultimate Simon & Garfunkel“ beschriftete Schätze herausgefischt wurden. Und dann gab es die stundenlange Zwangsbeschallung mit unzeitgemäßer Musik für Mama, meinen Bruder und mich. Allerdings konnte ich insgeheim trotz der obligatorischen Britney-Spears-Single in meinem Regal durchaus etwas mit Simon & Garfunkel anfangen. Nur die Mädchen in meinem Umfeld eben nicht. Warum sollte man auch in der siebten Klasse seltsames, zweistimmiges, ein Vierteljahrhundert altes Acousticzeug toll finden, wenn es doch die tanzenden S Club 7-Menschen gab?

Ich habe also etwa bis zur Oberstufe mit niemandem tatsächlich über Musik reden können. Aber ich würde den Teufel tun und meinem Vater diese Erziehungsmaßnahme vorwerfen. Denn dass gerade diese Papa-Kassetten mein 13-jähriges Ich geprägt haben und nicht etwa die Wolfgang-Petri-Tapes der Eltern anderer Leute, ist bestimmt gar nicht so schlecht.
helena-kaschel

Text: jetzt-redaktion - Foto: .marqs / photocase.com

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