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„Wir würden uns gerne mit ihr identifizieren“

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Verbotene Liebe im Online-Dating-Zeitalter? Im 21. Jahrhundert kennen Beziehungen keine gesellschaftlichen Schranken mehr. Oder doch? Was fasziniert uns am Schicksal der Anna Karenina? Natürlich passt der Film von Joe Wright mit den Großaufnahmen vom russischen Winter und den märchenhaften Ballkleidern wunderbar in die Adventszeit. Das Kostüm-Kino als pompöses Theaterstück mit Fantasy-Elementen ist visuell ansprechend, aber warum interessiert uns das Liebesdilemma aus einer anderen Epoche? Lea Schütze vom Institut für Soziologie der LMU München meint: Wir sind in Beziehungsfragen nicht freier als Anna Karenina, wir reden es uns nur ein.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Keira Knightley als Romanheldin Anna Karenina

jetzt.de: Frau Schütze, Anna Karenina spielt im 19. Jahrhundert. Die Hauptfigur ist zwischen Ehepflichten und einer Affäre hin- und hergerissen ist. Würde die heutige Gesellschaft ihr diesen Seitensprung eher verzeihen? 
Lea Schütze: Ich würde sagen, wir sind heute noch weniger tolerant als zur Zeit, in der der Film spielt. Heute führen wir Beziehungen immer unter einem romantischen Liebesideal, gehen von einer  sogenannten Unendlichkeitsfiktion aus. Das heißt, wir lieben unter der Maßgabe, dass die Beziehung potentiell nie zu Ende geht. Eine glückliche Partnerschaft braucht auch eine Ungebrochenheit der Wechselseitigkeit, in der sich die Partner durch ihr Verhalten versichern, alles für die Beziehung und den anderen zu tun. Ein Seitensprung oder Ehebruch löst diese beiden Merkmale auf und stürzt die Beziehung in die Krise. Wir sind nicht toleranter geworden, eher im Gegenteil, weil wir das romantische Ideal heute mehr überhöhen als wir es je getan haben.  

Anna Karenina leidet unter einer unglücklichen Vernunftehe. Sie haben gerade das romantische Ideal unserer Zeit angesprochen. Ist die Vernunftehe ausgestorben?  
Sie läuft unter einem anderen Gewand. Wir treffen unsere Partnerwahl ja nach sehr rationalen Kriterien, dafür gibt es hunderte Studien. Durch die Maßgabe „Wir lieben uns aber!“ wird diese Rationalität überlagert. Es sind also nur andere Begrifflichkeiten.  

Erzwungen standesgemäße Bindungen sind ja eigentlich von Vorgestern. Wie wichtig ist heute noch der soziale Status bei der Partnerwahl?  
Der spielt eindeutig noch eine sehr hohe Rolle. Wir leben ja nach wie vor in einer stark hierarchisch gegliederten Gesellschaft, wenn man so will mit Klassen, Schichten oder Milieus. Die Partnerwahl läuft sehr stark über Gelegenheitsstrukturen ab, das heißt: Wo wir herkommen, welchen Beruf wir haben, unsere Bildung, unser Einkommen, das alles bestimmt ja, welche Freunde wir haben, wo wir uns in der Freizeit aufhalten und wen wir überhaupt kennen lernen können. Zurzeit sind zum Beispiel 80 Prozent aller Studenten in einer monogamen Beziehung mit Studenten zusammen, das verdeutlicht den Punkt ganz gut. Dann folgt die Partnerwahl ja auch über Kompatibilität. Wenn man durch das Abgleichen von Interessen, Moralvorstellungen und so weiter festgestellt hat: „wir beide sind kompatibel“, kann das wieder umgedeutet werden in eine schicksalshafte Begegnung oder ähnliche romantische Vorstellungen. Tatsächlich lernt man sich aber sehr stark über den sozialen Status kennen.  

Anna Kareninas Problem ist vor allem der hohe Stellenwert der Ehe in ihrer Zeit. Mit einer Affäre riskiert sie, von ihrem Umfeld ausgegrenzt zu werden. Wie sieht es mit der Ehe im 21. Jahrhundert aus, verliert sie ihre Bedeutung?  
Dass wir so viel über darüber reden, zeigt ja ihren immer noch hohen Stellenwert. Aber ich würde sagen entweder als Modell oder als Antimodell. Entweder wird sie als Ort der Geborgenheit und Liebe in einer kalten und individualisierten Welt überhöht, wobei zu hohe Erwartungen zum Scheitern führen, was die hohe Scheidungsrate erklären könnte. Oder man entscheidet sich ganz bewusst und öffentlich dagegen. Es ist als Frau ja zum Beispiel auch nicht mehr verpönt ohne Ehe eine Familie zu gründen. Bei der Entscheidung für oder gegen die Ehe spielen gesellschaftliche Vorstellungen natürlich auch eine große Rolle. 

In Joe Wrights Film stößt die Freiheit der Gefühle an Grenzen. Wo wird die Liebe heute noch am meisten eingeschränkt?  
Treue ist immer noch stark mit strikten Vorstellungen und Sanktionen verbunden. Fremdgehen ist auch heute etwas, das man relativ eindeutig nicht tun sollte, einfach weil Treue maßgeblich zur Stabilität einer Beziehung beiträgt.

Historienfilme sind scheinbar dann besonders erfolgreich, wenn es um Beziehungen oder deren Scheitern geht. Auch wenn sie einer ganz anderen Zeit und unter ganz anderen Umständen spielen, die wir so nicht kennen. Sind Beziehungsprobleme universell, zeitlos?  
Paarbeziehungen sind ja ein klassisches Motiv aus Kunst und Literatur. Ich glaube, das spricht den Wunsch aller Menschen zu nahezu allen Zeiten an, bestimmte Beschränkungen zu überwinden, die Mühsal des Lebens mit der „einen“ Person zu teilen. Der Grundgedanke ist eine Liebe, die so stark ist, dass sie alle Grenzen überwindet. Dass sie sich durch Romantik auszeichnet, nicht durch Vernunft. Diese überhöhten Liebesideale, die überzogenen Erwartungen an Beziehungen, die wir bei zum Beispiel bei Anna Karenina finden, haben wir in einem modernen, trüben Alltag immer noch sehr stark. Das ist dann wohl das Universelle.  

Dieser Film ist also nicht nur Unterhaltung und Eintauchen in eine vergangene Zeit, sondern wir können uns teilweise mit Anna Kareninas Situation identifizieren? Können Beziehungen heute noch an gesellschaftlichen Konventionen scheitern?  
Ich glaube, wir würden uns gerne mit ihr identifizieren. Wir wollen uns im Alltag gar nicht bewusst werden, dass wir eben doch unsere Partner sehr rational auswählen. Das, was Anna Karenina macht, für die wahre Liebe gegen gesellschaftliche Konventionen anzukämpfen, ist auch eine Sehnsucht in uns. Dass sie den Freitod als Ausweg wählt, also die krasseste Maßnahme überhaupt, zeigt auch, welchen Stellenwert die Liebe hat. Letztendlich finden wir uns aber auch sehr schön darin wieder, dass dieser Kampf nicht zu kämpfen und ist. Das sehen wir an vielen kleinen Dingen, die uns im Leben passieren.  

Anna Karenina (Regie: Joe Wright, Darsteller: Keira Knightley, Jude Law, Aaron Taylor-Johnson) startet am 6. Dezember in den deutschen Kinos.

Text: helena-kaschel - Bild: dapd

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