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7. Dezember

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Liebe Mama, lieber Papa,

bitte macht euch keine Sorgen um mich, dieses Jahr wünsche ich mir gar nichts. Es gibt Fotos von mir an Weihnachten, ich bin ungefähr vier Jahre alt und trage das erste Mal in meinem Leben eine Brille, damals noch aus Plastik und ohne Gläser. Ich sehe sehr glücklich aus, das Geschenk, ein Arztkoffer, war echt super! Es wäre natürlich einfach die Dinge aufzulisten die ich nie bekommen habe: Die Baby Born (ca. 6 Jahre), ein Furby (ca. 10 Jahre) oder echte Buffalos (ca. 12 Jahre). Habe ich mich eigentlich jemals bei euch dafür bedankt, dass ihr mich vor all diesem Gerümpel bewahrt habt? 

Es war schön damals, als man mir mit einem Arztkoffer oder einem neuen Barbiehaus noch einen Herzenswunsch erfüllen konnte oder? Die Sache ist die, je älter ich werde, desto mehr habe ich das Gefühl, dass ich mir nichts von dem wünsche was ihr mir kaufen könntet. Manchmal möchte ich sogar am liebsten alles auf einen großen Scheiterhaufen werfen, anzünden und frei sein. Ich würde nur ein paar Ausnahmen machen, ein paar Bücher würde ich behalten, die ganzen Fotos und das Porzellan-Nilpferd das C. mir letztes Jahr aus Paris mitgebracht hat. Die CDs könnten natürlich auch nicht weg, die Sammlung alter Konzertkarten und Postkarten müssen auch bleiben. Wenn ich so darüber nachdenke wäre es vielleicht doch nur ein Lagerfeuer.

Es ist nur eben so dass ich mit dem Alter etwas schwieriger geworden bin was Geschenke angeht. Mama, Papa, bitte macht euch jetzt wirklich keine Sorgen: In letzter Zeit denke ich häufiger über das Sterben nach. Ich habe keine Angst davor jetzt gleich zu sterben, bei der nächsten Bahnfahrt oder von einem Bus überfahren zu werden, ich habe nur Angst davor überhaupt zu sterben, irgendwann mal. Das ist kein Grund zu Aufregung, ich brauche jetzt auch kein gutes Gespräch oder eine Religion die mir ein tolles "danach" verspricht, ich musste einfach mal kurz darüber nachdenken.

Ich habe letztens zwei Frauen in der Bahn belauscht, sie kannten sich wohl noch nicht lange:
"Wie alt sind Sie denn?"
"Na, schätzen Sie doch mal!"
"Pff, vielleicht, Anfang 60?"
"73 bin ich schon! 73 Jahre. Tja, da fragt man sich schon manchmal, wie viele Jahre habe ich noch, vielleicht noch zehn? Oder nur Fünf?"

Ich bin jetzt 22 Jahre, 7 Monate und ein paar Tage alt, und habe eine scheiß-Angst vorm Sterben.  Ich hatte noch zwei Stunden Fahrt vor mir also habe ich ein bisschen darüber nachgedacht, was ich in der Zeit die mir bleibt noch tun will. Leider kann ich nichts davon auf meinen Wunschzettel für euch schreiben, aber mir sind einige Dinge klar geworden.

1. Ja ich will Kinder haben. Irgendwann zumindest. Schon, ich habe Angst davor dass meine Kinder mir tierisch auf die Nerven gehen könnten, das ich das Gefühl hätte ein aufregendes, spannendes erfülltes Leben für ein Kind aufgeben zu müssen oder dass ich eine schlechte Mutter wäre. Der Meeresspiegel steigt, überall brechen Kriege aus, die Mieten kann auch niemand mehr bezahlen, die Welt geht den Bach runter und trotzdem: Ich will Kinder haben. Ich will das sich Vermehren, dass in meiner Familie seit Jahrtausenden Tradition ist nicht unterbrechen. Ich will daran glauben können, das das Leben auch nach mir weiter geht.

2. Ich will reisen. Ich will die Welt sehen bevor ich für immer gehe. Ich will wenigstens wissen wie er aussah, der Planet auf dem ich gelebt habe. Patagonien, Buenos Aires, Tel Aviv, ich will Polar-Lichter sehen, Gebirge, Meere, ich will einmal auf einer unbewohnten Insel stehen, ich will zu den Niagarafällen und an den Saltsraumen und nach Barcelona. Ich will Pinguine sehen und durch die Sundarbans fahren. Ich will einmal nach Oregon und zum Antelope Canyon. Ich will all das sehen und mich winzig fühlen, nicht wie der Mittelpunkt der Erde!

3. Ich will ein Buch schreiben. Oder ein Bild malen. Oder einen Film drehen, ein Lied komponieren oder etwas bauen. Ich möchte beweisen, dass es Dinge gibt die nur ich tun kann, Sachen die nur ich denken kann. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich einzigartig bin, aber ich will dass es der Rest der Welt auch weiß. Und ich will beweisen dass ich das kann, vor allen Dingen mir selbst.
Ich will leben, so richtig. Im Moment ist das alles.

Liebe Mama, lieber Papa,
mir ist klar geworden, dass es Dinge gibt die ich tun muss bevor ich alt werde und nur noch traurige Geschichten über die Dinge erzählen kann die ich nicht gemacht habe. Leider gehören eine neue Uhr, ein gutes Buch, ein Sandwich-Toaster oder Socken mit Fuchsmotiv nicht dazu. Ich hoffe das ist okay für euch.
Wenn ihr mir ab und zu sagt, dass ich schon ganz gut so bin, wie ich bin und wenn ihr mir verzeihen könnt dass ich nicht jede Woche anrufe, dass ich mein Studium nur so mit Ach und Krach durchziehe, dass ich nicht immer das tue, was ihr für richtig haltet und wenn ich zurückkommen darf, sollte ich wirklich mal mein gesamtes Hab und Gut auf den Scheiterhaufen werfen, dann ist das das schönste Geschenk, das ihr mir dieses Jahr machen könnt. Mindestens so gut wie der Arztkoffer damals! Ich liebe euch sehr. Und bitte: Macht euch jetzt keine Sorgen um mich. Ich bin 22, ich lebe in einer fremden Stadt, ich komme klar.
Ich freu mich auf Weihnachten mit euch, bis bald!


Dieser Text stammt von jetzt-Userin fuckartletsdance

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