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Nordische Relativierungen

Text: danny_mahony
Aufgefallen war es ihm schon gestern, aber da maß er diesem klitzekleinen Gefühl noch keine größere Bedeutung zu. Aber jetzt, beim morgendlichen Kaffee auf dem hölzernen Liegestuhl, am hölzernen Steg, neben dem hölzernen Boot, da durchzuckte es ihn wieder. Das Wasser schlug sanft kleine Wellen an das Boot, aber sonst war nichts zu hören, kein noch so leises Geräusch. Und diesem Moment, da war nur er, der Kaffee und dieses Gefühl: er war zufrieden, mit sich und der Welt um ihn herum.

Fünf Tage zuvor stand er verloren auf dem Kungsträdgården, diesem großen Platz in Stockholms Innenstadt, der im Sommer durchgängig mit nach Sonne lechzenden Schweden und noch mehr schwitzenden Touristen bevölkert ist, die in den zahllosen Straßencafés ihrem Kaffee und ihren Kanelbullar frönen. Doch er, auf der Flucht vor dem, was zu Hause in Deutschland passiert war und das ihm letztlich keine andere Wahl als diese Flucht ließ, stand da, schaute sich um und wusste, dass sein Plan nicht aufgehen würde: Für eine Woche die Besinnung verlieren, was nicht ganz wortwörtlich gemeint war. Na ja, vielleicht aber auch doch. Er wollte sich betrinken, englisch reden, tanzen, noch mehr trinken, fremde Frauen küssen, mit ihnen heimgehen, noch mehr trinken, die Besinnung verlieren. Und vergessen. Doch da, in der Sonne Stockholms, wenige Stunden nach seiner Ankunft, da wusste er, dass das nicht funktionieren würde.

Er hasste plötzlich diese Menschenmassen, die so satt und zufrieden waren. Sie saßen da in größeren und kleineren Gruppen, unterhielten sich fröhlich und machten keine Anstalten, weiter zu gehen. Am schlimmsten waren die Pärchen, die ihre perfekte Zweisamkeit so extensiv zelebrierten, das ihm beinahe übel wurde vor Abscheu, Ekel und Sehnsucht. Wo er hinschaute, das gleiche Bild: Wunderschöne glückliche Menschen. Er musste hier weg.

Zunächst klang es für ihn logisch, nach Stockholm zu fliegen. Nicht dass er jemals in Skandinavien gewesen wäre, das nicht. Aber er hatte viele Schweden, Dänen, Norweger auf seinen Reisen kennengelernt, und in der Retrospektive waren an seinen wildesten Partynächten immer trinkfeste Skandinavier und/oder bezaubernde Skandinavierinnen beteiligt. Und so buchte er einen Flug, packte seinen Koffer und verschwand, auf der Flucht vor dem Geschehenen.

Doch jetzt musste er eine neuerliche Flucht organisieren, wollte er nicht endgültig untergehen in dieser Welt voll fremder Glückseligkeit und eigener melancholischer Sehnsucht. Erst lief er ziellos durch die Innenstadt der schwedischen Hauptstadt und wusste nicht wohin. Irgendwann, von einer ratlosen Müdigkeit erfasst, machte er sich auf den Weg zurück in sein Hostel, ein riesiges anonymes Bettenlager in der Nähe des Hauptbahnhofs. In der Lobby blieb sein Blick an einem Ständer mit bunten Flyern hängen, die für Museen oder Ausflugsbötchen warben. Inmitten dieser Ansammlung von brüllenden Verheißungen entdeckte er eine Broschüre für eine Fähre nach Helsinki. Er erinnerte sich, dass er vor einiger Zeit mal in einer Zeitschrift von dieser Fährverbindung gelesen hatte. Es hieß, dass viele Schweden und viele Finnen diese Schiffe nutzten. Manchmal, um von einen ins andere Land zu kommen, oftmals aber, um auf der Fähre in zollfreien Gewässern Alkohol in rauen Mengen zu bechern. In diesem Moment hatte er wieder Hoffnung in Bezug auf sein Ziel der Besinnungslosigkeit. Er ging zur Rezeption und buchte eine Hin- und Rückfahrt nach Helsinki. Einen Aufenthalt in Finnland plante er nicht ein, sondern reservierte sofort die nächste Fähre zurück nach Schweden.





Am nächsten Morgen lief er direkt zum Fährterminal, das etwas außerhalb der Innenstadt lag. Er bezog sein Zimmer und ging anschließend auf das Deck, um die Abfahrt aus dem Hafen zu verfolgen. Langsam ließ das Schiff die unmittelbare Innenstadt Stockholms hinter sich, erreichte die Vorstädte, fuhr schließlich in die Schären ein, dieses Archipel tausender kleiner Inseln, das zwischen Stockholm und dem offenen Meer liegt. Viele kleine Segelboote und Fischerkähne begleiteten die riesige Fähre eine Weile und bogen dann wieder ab in das unübersichtliche Inselgewirr. Auf beinahe jeder Insel – und war sie noch so klein – stand ein rotes, blaues oder gelbes Häuschen mit einem kleinen Bootssteg davor. Und er, auf dem Oberdeck stehend, betrachtete voller stiller Faszination das alles, und merkte dabei überhaupt nicht, wie die Zeit verging.

Irgendwann, es war mittlerweile Mittag geworden, erreichte das Schiff das offene Meer. Er stand noch immer an der Reling und blickte still auf den Ozean, der am Horizont beinahe stufenlos in den Himmel mündete. In der Ferne entdeckte er plötzlich einige schwarze Punkte und glaubte erst, dass das schon Finnland sei. Aber dann erinnerte er sich, dass die Fähre auf der Fahrt nach Helsinki noch einen Zwischenstopp machen würde. Langsam kamen die schwarzen Punkte näher, wurden größer und gaben sich als Inseln zu erkennen. Auf den ersten Blick sahen die Inseln unbewohnt aus, aber dann entdeckte er doch hier und da ein buntes Holzhaus am Ufer. Aber sonst sah er nur golden glänzendes Schilf und dahinter kleine graue Steinklippen oder sattgrüne Bäume.

Irgendwann veränderte die Fähre ihre Richtung und fuhr in die Meeresenge zwischen zwei Inseln hinein. Langsam wurden die Häuser mehr, dann kam die Durchsage, dass bald Mariehamn, die Hauptstadt von Åland, erreicht werden würde. In diesem Moment machte es "Klick!" bei ihm. "Ich muss hier aussteigen!", schoss es ihm in den Kopf. Er rannte zu seiner Kabine und schmiss seine Kleidung in seinen Koffer. Als er wieder das Dock erreichte, legte das Schiff gerade am Terminal an. Kaum waren die Türen zur Gangway offen, verließ er die Fähre. Die Gedanken an seinen ursprünglichen Plan – sie waren in diesem Moment wie weggeblasen. Für ihn stand fest, dass nichts anderes als das, was er da gerade tat, das richtige war. Erst als er festen Boden erreicht hatte, fiel ihm auf, dass er überhaupt keine Ahnung hatte, wo er gerade hingeraten ist. Eine kleine Inselgruppe zwischen Schweden und Finnland, die wohl Åland heißt. Das wars.





Er entdeckte einen Wegweiser zur Touristeninformation. Nach 10 Minuten Fußmarsch stand er vor einem grauen, zweistöckigen Plattenbau, der überhaupt nicht in diese Idylle passte. Doch drinnen saß eine freundlich aussehende blonde Frau hinter einem kleinen Schreibtisch. Er wandte sich jedoch zunächst unsicher den Prospekten zu. Aber dann fragte er sie, wo er hier übernachten könnte. Erst zählte sie ihm diverse Hotels und auch ein Hostel auf. Doch dann hatte er einen Geistesblitz: "Kann man auch eines dieser kleinen bunten Holzhäuschen am Meer mieten?" Und tatsächlich, sie hatte einige im Angebot. Schließlich entschied er sich für eine rote Hütte, direkt am Meer, zur Landseite am Waldrand.

Die Hütte war zweckmäßig ausgestattet und nicht besonders groß. Aber für ihn alleine reichte sie vollkommen aus. In den nächsten Tagen erkundete er zu Fuß oder mit einem geliehenen Fahrrad die diversen Inseln, die mit regelmäßig verkehrenden kleinen Fähren verbunden waren. Er machte Picknick am Strand, wanderte durch einen leisen Birkenwald, lag einfach nur im Liegestuhl vor seiner Hütte. Und das Wundersame war: Die Ereignisse der letzten Wochen, die ihn nach Stockholm getrieben hatten und noch vor vier, fünf Tagen vollständig Besitz von seinen Gedanken ergriffen hatten, sie flackerten in nur noch unregelmäßigen und immer länger werdenden Abständen auf, als böse Kulisse im Hintergrund. Aber zumeist fand da in seinem Kopf nur die Verarbeitung der Eindrücke seiner Umgebung statt. Er kam zur Ruhe.

An diesem Morgen, beim morgendlichen Kaffee auf dem hölzernen Liegestuhl, am hölzernen Steg, neben dem hölzernen Boot, da wurde es ihm das alles gewahr: Die vermeintliche Ausweglosigkeit des Status Quo, die nur eine verzweifelte Flucht nach Stockholm, zum Alkohol und den besinnungslosen Nächten zuließ, er hatte sie irgendwo zwischen den Stockholmer Schären und Åland aus seinem Blickfeld verloren. Diese Umgebung hatte seine Perspektive relativiert. Das Geschehene war nur noch eine vergangene, längst abgeschlossene Episode seines Lebens. In diesem Moment – mit dem heißen Kaffee am Meer sitzend – war er zufrieden. Morgen würde er nach Deutschland zurückkehren. Er freute sich darauf.
 


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