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WILHELMSBURG minus NEUHOF - 33Jahre – 33 Fotos

Text: HEDunckel





Es gibt kleine Inseln, große Inseln und Kontinente. Aber es gibt auch Inseln, die sich auf Inseln befinden: Vereine und Parteien; Sekten und spirituelle Gemeinschaften; Feuchtzonen und Wohngebiete … strukturell wie architektonisch – NEU und ALT. Ein „mittelaltes“ Wohngebiet, das sich eigentlich nur aus zwei Blocks mit extrem gedehnter, rechteckiger Grundfläche konstituierte und den Namen „NEUHOF“ trug, verschwand 1979 von der Oberfläche der Elbinsel Wilhelmsburg. Ähnlich wie ein entfernter Pickel im Gesicht von Heranwachsenden. Für viele meiner damaligen Freunde war diese, ihre Heimat wie ein sicherer Kontinent, der jedoch ebenso unterzugehen hatte wie Atlantis. Die Grundrisse des westlichen Blocks sind noch heute, zwischen der Öl-Mühle im Süden und der Auffahrt zur Hochbrücke im Norden, als Leerfläche zu erkennen. Diese wird teils vom Regen zur Pfützen-Bildung und teils von Lkws als Parkplatz genutzt.








Der Fotograf Jürgen Schwitzkowski, ein ehemaliger „Neuhöfer“, stellt jetzt - „Neuhof" 33 Jahre danach - 33 Fotodokumente - eines verschwundenen Stadtviertels im „Museum-Elbinsel-Wilhelmsburg e.V.“ aus. Nachdem er als Redakteur einer Jugendzeitschrift viele Stars und Sternchen abgelichtet hatte, und schon lange nicht mehr in den seinerzeit untergehenden Quartieren wohnte, kam er mit einem Freund zurück: Zwischen Räumung und Abriss. Beide machten Fotos der leer und offen stehenden Häuser: verlassene Schuhe im Flur, eine Autotür im Wohnzimmer, Sessel hier und Sessel dort. Diese Fotos befinden sich jetzt auf antiken Stühlen, einem Transportkahn, einem historischen Milchwagen und einem Pferdeschlitten von 1797. Das im Museum erhaltene Kulturgut Wilhelmsburger Geschichte wird durch real abhanden gekommene Kulturgüter und in Form von virtuellen Erinnerungen ergänzt. Es handelt sich um eine Art anthropografischer Installation, die zur Eröffnung einen gewissen Magnetismus generierte, und viele ehemalige Bewohner Neuhofs anziehen konnte.








Im Jahre 1950 in Hamburg geboren und dort aufgewachsen, lebt der Autor heute in Offenburg. Nach dem Krieg waren seine Eltern froh, ein Dach über dem Kopf zu haben, zumal der Vater erst 1948 aus der Kriegsgefangenschaft kam. So verbrachte die Familie die ersten Jahre auf Alt-Neuhof, um dann seit Mitte der 50er Jahre auf Neuhof in der Köhlbrandstraße zu wohnen. Die damaligen Wohnverhältnisse waren der Zeit und den Nachkriegsumständen entsprechend karg: zwei Zimmer, Küche, kein Badezimmer, das WC lag zwischen den Etagen und wurde von zwei Parteien geteilt. Bis zum Baubeginn der Köhlbrandbrücke im Jahre 1970 war der Ortsteil zwar nicht schön, aber hatte auch seinen Charme: in unmittelbarer Nähe zum Elbarm Köhlbrand (mit Strand !) und zum damaligen, hochinteressanten Stückguthafen. Wie fast alle Menschen auf Wilhelmsburg, fühlten sich auch die Neuhöfer auf der Insel wohl. Nach den Sturmfluten von 1962 und 1976, sowie der Erweiterung des Geländes der damaligen "Hansa-Mühle" und dem Bau der Köhlbrandbrücke, kündigte sich ein geplanter Abriss der beiden Häuserblöcke an. Die Leute verließen ihre Heimat.








Das „Museum Elbinsel Wilhelmsburg e.V.“ ist inzwischen auch schon über 100 Jahre alt. Die geschriebene Geschichte begann hier im Jahre 1672, als die Inseln Stillhorn, Georgswerder und Rotehaus mit dem Reiherstieg zusammen, und durch den Herzog Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg, zur „Herrschaft Wilhelmsburg“ eingedeicht wurden. So wurde seine Tochter Sophie Dorothea zur Gräfin von Wilhelmsburg, heiratete ihren Cousin Georg Ludwig von Hannover; und es blieben „Land und Krone“ in der Welfenfamilie. Ihre Liebes-Affäre mit Graf Philipp Christoph von Königsmark wurde beiden zu Verhängnis: Er zahlte mit seinem Leben und sie mit ihrer Freiheit. Doch war sie Mutter von königlicher Nachkommenschaft: Ihr Sohn wurde Georg II. von England und ihre Tochter heiratete den Soldatenkönig um wiederum Mutter von Friedrich des Großen zu werden. Es blieb aber die Geschichte der Wilhelmsburger gewissermaßen ein „Blues“ des Verlassens, des Verlassen-Werdens und des Verlassen-Seins. Sie kamen seit jeher vom Festland: aus dem Osten (Russland und Polen) – aus dem Süden (Italien und Spanien)– oder auch aus weiter Ferne (Orient und Afrika), und in Hamburg blieben sie meist Fremde.








Ein von IBA und IGS angedachter „Sprung über die Elbe“ erweist sich in der Aktualität weniger als ein Akt der Emanzipation von historisch benachteiligten Bürgern, sondern setzt sich eher wie ein Überfall ortsfremder Yuppies in Szene. Es zeigt sich wieder einmal: Anscheinend muss manchmal die Wirtschaft mittels artifiziell forcierter Schübe zur Expansion gebracht werden. Und so kommen auch immer wieder „Retter“ über die Elbe gesprungen, um ihre Spuren zu hinterlassen. Die Ausstellung „Neuhof" 33 Jahre danach - 33 Fotodokumente erinnert uns hier an die Vergänglichkeit der Dinge. War noch bis zur großen Sturmflut von 1962 „Individualität Trumpf“ auf unserer Elbinsel, existiert der Mensch inzwischen nur noch als Massenwesen auf Wilhelmsburg … Zustände die auch von Vergänglichkeit berichten. Konrad Lorenz, als Nobelpreisträger von 1973, beschrieb, als eine von „Acht Todsünden der Zivilisierten Menschheit“, die Zunahme an Indoktrinierbarkeit. Er stellte damals bereits fest, dass Manipulationen durch Massenmedien ethische, ästhetische und auch logische Distortionen zur Folge haben: Ein uniformierter Lifestyle macht sich ohne angemessene Reflexionen seitens der Akteure breit, wo auch immaterielle Werte zur Ware geworden sind. Ein Kapitel dieser Dialektik der Vergänglichkeit kann noch bis zum 28.10.2012, jeweils Sonntags von 14.00 - 17.00 Uhr, im Museum Elbinsel Wilhelmsburg e.V. erlebt werden.



Holger E. Dunckel






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