Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Eingeborene kennen lernen

Text: freitagsmachichfrei
Wir tun uns schwer damit, im Urlaub Eingeborene kennen zu lernen. Wahrscheinlich sind wir zu zurückhaltend. Wir wissen auch nie, ob wir sie füttern dürfen. Diesmal hat’s geklappt. Sichere Methode, mit Eingeborenen in Kontakt zu treten...Variante «Aufwändig, komplett bescheuert und gemeingefährlich. Aber dafür kennt man nachher das ganze Dorf. Inklusive Fütterung»


Einfach herrlich hier in unserer Ferienwohnung. 2. Stock, direkt am Strand.
 Schon seit Stunden verweilen wir in Apero-Laune auf unserem Balkon. Vor uns der mittlerweile leere Strand. Die Sonne sucht sich ihr lauschiges Nachtlager und die Cagarras krächzen liebestoll in die Dämmerung hinein. Von den Scheinwerfern der Strandbar nebenan beleuchtet zwirbeln sie wie verheissungsvolle Sternschnuppen durch den Nachthimmel.

Drinnen wartet der pflückfrische Blattsalat darauf, in die weltbeste von meinem Bebe zubereitete Salatsauce getaucht zu werden. Die Spaghettisauce brutzelt. Die Spaghetti ziehen noch, sind aber auch bald al dente. Fantastisch. Ich entzünde die Kerzen und mein Bebe gesellt sich zu mir und meint: «So, ist gleich soweit. Ich mach mal die Balkontür zu, damit wir nicht wieder eine Insekteninvasion in der Küche haben.» Ich liebe das, ihren Blick, ihre Sorglosigkeit. Zu sehen, dass sie wirklich glücklich ist. Das macht mich auch zufrieden. Moment mal. «Balkontüre zu? Wirklich?» «Ja, wegen den Insekten», meint sie.
Das macht Sinn. Immer die toten Viecher unter den Küchenlampen. 

«Nein, nicht zumachen!», erwache ich aus der Dämmerung. «Nicht... zu... machen. Nicht...zu...» Tür ist zu. Schloss eingeschnappt. Ich: «Ähm, Mr President, we`ve got a Situation here.» Sie: «Nein.» Ich: «Doch!» Sie: «Neiiiinnnnn!!!» Wir machen eine Situationsanalyse. Balkontür eins ist zu. Schloss eingeschnappt. Balkontür zwei war schon immer zu. Haustür ist zu. Schlüssel steckt von innen. Schlafzimmerfenster ist zu. Hab ich heute vor dem Verlassen der Wohnung geschlossen. Schloss eingeschnappt. Alle andern Fenster sind zu. Schlösser eingeschnappt. 

Und drinnen brutzeln die Spaghetti vor sich hin... Gasherd. Gefährlich? Langsam entwickelt sich Rauch in der Küche. «Mr President, we`ve got two situations here!», meint mein Bebe. Immer ein Spässchen auf der Zunge, deshalb habe ich sie so gern. Wir werden beide ein bisschen nervös. «Das ist jetzt wirklich eine Scheisssituation», sage ich. Wir haben keine Chance in die Wohnung zu gelangen. Die Balkontüren lassen sich nicht öffnen. Zu unserem Nachbarn rüberklettern nützt nichts, ausserdem scheint der schon zu schlafen. Übers Dach? Könnte funktionieren, aber was dann? Ich steck mir eine Zigarette an und nehm einen tüchtigen Schluck aus dem Weinglas. «Für die Konzentration, was?», lacht mein Bebe. Dafür liebe ich sie, immer scharfsinnig.

Wir versuchen’s übers Dach. Funktioniert. Und jetzt via Kamin hinein? Ich komm mir schon ein bisschen vor wie der Weihnachtsmann auf dem Schlot der Kerichtverbrennungsanlage. Riecht auch so hier oben. Wir klettern auf der anderen Seite runter und stehen bald vor unserer Wohnungstür. «Michèle Roten kam mit der Kreditkarte rein», sage ich. «Die Kolumnistin?», fragt mein Bebe, krallt sich die Plastikschaufel, die vor der Türe liegt, und macht einen auf Kreditkarte. Die ist aber viel zu gross und zuwenig stabil. Etwas blättert ab. Wandfarbe oder Plastiksplitter. Egal. Mein Bebe besteigt ein Mäuerchen und will sich zum Badezimmerfenster hinunterhangeln. Könnte offen sein. 

Wir sehen den Boden aber nicht. «Nicht springen», sage ich, «zu gefährlich.» «Da unten riechts nach Katzenkacke!», kommentiert mein Bebe und zieht sich wieder hinauf. Wir rennen über die Treppe auf die Strasse. Gehen ums Haus. Suchen nach Möglichkeiten. Alles zu hoch und zu dunkel. Und die Taschenlampen sind in der Wohnung. Dann gibt es also nur noch eine Möglichkeit. Wir müssen eine Scheibe einschlagen. Langsam wird das Ganze mit dem lodernden Gasherd nämlich auch für den Nachbarn gefährlich – auch wenn es eine nette Schlagzeile generieren würde:

«Touristen fackeln Dorf auf den Azoren ab. Sieben Tote. 125 Obdachlose. Sachschaden in Millionenhöhe. Verdächtige flüchtig.» Wir hätten einen Deal mit den Drogenvertickern in Rabo de Peixe gemacht und wären via Kap Verde in Afrika untergetaucht. Nö, ginge nicht. Wir wären ja nicht an unsere Autoschlüssel rangekommen, weil Autoschlüssel in Wohnung. Geld auch. Telefon auch. Pässe auch. Wir schalten unseren Verstand ein. Mein Bebe sucht einen grossen Stein während ich drei Eingeborene anquatsche: «Speak English, yes? We`ve got a situation here, Mr President, blablabla...» Die Eingeborenen sind super. Die sagen, Rosalia von der Beiz vis à vis weiss, wer noch einen Schlüssel für unsere Wohnung hat. Endlich kommt der Stein ins Rollen.

Geht alles ruckzuck. Rosalia weiss Bescheid. Zusammen mit zwei Eingeborenen besteige ich deren Kleinwagen. Mein Bebe wartet derweil unschlüssig mit einem Stein in der Hand vor dem Gartentor. Roberto, der Fahrer, setzt mit Geheul und Gequietsche seinen Flitzer in Gang. Wir rasen zu Esmeralda. Die wird von meinen Helden geweckt. Von wegen Bürokratie im Ausland und so. Esmeralda rückt die Schlüssel raus. Wir rasen zurück. Hat alles nur knapp 10 Minuten gedauert. Wir steigen aus. Im ganzen Dorf riecht es wie damals, als die Russen die Taktik der verbrannten Erde angewandt haben und die portugiesischen Kinder brüllen etwas wie «espaguete» und «fogo» durchs Dorf. Vielleicht auch: «O jantar está pronto!» Hungrig wär ich tatsächlich so langsam.

Mein Bebe ist inzwischen übers Dach zurück auf den Balkon geklettert, hat durch die beschlagenen Scheiben die verkohlten Spaghetti auf dem fröhlich lodernden Gasherd ins Visier genommen und dann den Haupt-Gashahn auf dem Balkon gefunden und abgedreht. Ein Fenster hat sie glücklicherweise noch nicht eingeschmissen. Roberto will den einen Schlüssel ins Gartentürschloss stecken. Geht nicht. Ich entreisse ihm die Schlüssel. Der andere passt. Dann weiter zur Wohnungstüre. 

«Mist, der Wohnungsschlüssel steckt von innen, wir kriegen die Tür nicht auf!», sage ich. Roberto schaut mich entgeistert an. «Probieren!», sagt er. Ich führe den Schlüssel ins Loch und drehe. Die Tür springt auf. Holla! In der Wohnung herrscht dichter Qualm. Ich renne zur Balkontür und reisse sie auf. Aufatmen wäre jetzt der falsche Ausdruck, aber uns fällt gerade eine Eigernordwand vom Herzen.

Dann sind wir wieder bei der Ausgangssituation auf dem Balkon. Sternenhimmel und Cagarragekreische, nun atmosphärisch untermalt von der Rauch-und Nebebelmaschine in der Küche. Alle Türen sind nun sperrangelweit offen und der Wohnungsschlüssel ist in meiner Tasche. Den geb ich nicht mehr her. Erstaunlicherweise ist der Weisswein auf dem Balkon noch kalt, womit wir die zwei Einheimischen umgehend füttern. Geht doch. Nun kennt uns das ganze Dorf und zudem sind wir an die Grillparty der freiwilligen Feuerwehr am kommenden Abend eingeladen. So geht das.

Weiss noch nicht, ob wir gehen...



Den Text widme ich Michèle Roten. Sie weiss warum.

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: