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Geheime Gesetze (13): Im Wartezimmer immer nur Schund

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In Wartezimmern von Ärzten dürfen keine gescheiten Zeitschriften liegen. Wenn sich ein Nachrichtenmagazin dorthin verirrt hat, muss es mindestens zwei Monate alt sein.  

Jeder Mensch hat Angst vor dem Arzt. Denn bevor dieser dem Kranken hilft, droht meist Ungemach: Spritzen, Abstriche, Punktierungen – der Weg der Gesundung ist oft ein schmerzhafter. Geht man hingegen gesund und brav zu einer so genannten Routineuntersuchung, wartet nichts anderes ist als das russisch Roulette der Arztbesuche: Wahrscheinlich hat man nichts, aber wenn doch, dann ist es umso schlimmer. Leider verhindert das Geheime Gesetz der Wartezimmer jede Flucht vor der beängstigenden medizinischen Realität, denn: Ärzte dürfen nur Schund zu lesen anbieten. Seltene Exemplare seriöser Nachrichtenmagazine müssen mindestens zwei Monate alt sein.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Man schleppt sich ins Wartezimmer, nickt den Lahmen und Siechen zu, raunt ein kaum hörbares „Tag“, misst ab, wer am ärmsten dran ist. Voller Selbstmitleid platziert man sich zwischen alten Menschen, an denen man unausweichliche Zustände körperlichen Verfalls studieren kann, und sehnt sich nach Ablenkung. Zu diesem Zweck liegen Magazine auf dem rückenstrapazierend niedrigen Tisch. Manche Cover und ihre riesigen Buchstaben erkennt man sofort, andere tragen den kleinbürgerlichen Papiermantel des Lesezirkels. Ihr Inhalt ist jedoch immer gleich, egal welchen Arzt man aufsucht: Es müssen mindestens zwei Ausgaben einer Autozeitschrift, mehrere Titel mit dem Wort „Frau“ im Namen und ein Krankenkassenheft vorhanden sein. Nachrichtenmagazine sind erlaubt, jedoch erst ab einem Alter von zwei Monaten. Ein aktuelles Klatschblatt findet sich, seriöse Angebote sind hingegen verlässlich veraltet. Dabei weiß man: Nichts, nicht einmal der greiseste Patient, ist so alt wie die Zeitung von gestern. Dem Stammklientel der Praxis ist das egal: Die Wartezimmerprofis harren konzentriert und starren in die Luft, bis sie das Aufrufen ihres Namens mit einem asthmatischen Schnaufen quittieren. Sie blättern höchstens abwesend durch bildlastige Publikationen. Sie haben sowieso schon alles gesehen.  

Die Gründe für diese Unterversorgung unseres medizinischen Systems mit Qualitätsjournalismus sind schwerer zu diagnostizieren als ein tropisches Fieber. Vielleicht stört Gehirnaktivität den Genesungsprozess? Vielleicht werden grundsätzlich eher lesefaule Sprechstundenhilfen zu Presse-Attachés der Praxis ernannt? Vielleicht stibitzen die Ärzte und ihr Personal die guten Hefte heimlich direkt aus der Post? Oder hat der Arzt etwa Angst vor informierten Menschen? 

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