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Erste Liebesgefühle

Text: BalthasarMueller
Zum besseren Verständnis vorab: Balthasar Müller wächst in einer kinderreichen Arbeiterfamilie mit fünf Schwestern und einem kleinen Bruder in ärmlichsten Verhältnissen auf. Seine Mutter ist eine extrem gewalttätige Psychopatin, der 20 Jahre ältere Vater ein Feigling, der seine Kinder nicht beschützt, sondern sich auf Aufforderung seiner Frau an der Misshandlung der Kinder beteiligt... Er kann mit Frauen nichts anfangen, die Gewalt­exzesse seiner Kindheit haben sich tief in seine Seele einge­brannt und sein Gefühls­leben zerstört. Er hat Angst vor Gefühlen jeder Art, insbesondere vor Gefühls­aus­brüchen von Frauen...

Erste Liebesgefühle

Manchmal wünschte ich mir, ich wäre wieder jung, 14 Jahre alt, als ich mich auf dem Skikurs in dieses eine Mädchen verliebt hatte und nicht wusste, was zu tun war, außer Händchen zu halten. Küssen, das hätte ich mich nie getraut, ich wäre ja gestorben bei dem Gedanken. Ich wusste zwar, dass ich es machen sollte, musste, aber es ging nicht. Es war ein Tabu, schon der Gedanke allein. Schon damals habe ich eine Mutter gesucht, jemanden, mit dem ich reden konnte. Aber keinen Sex, allein der Gedanke daran war völlig abwegig für mich, sogar das Küssen. Lieber Händchen halten wie Kinder, kleine Kinder, wie ich es immer mit meiner Schwester Heidi gemacht habe, vier oder fünf Jahre alt, und wir abends, im Dunkeln, vom Kindergarten Hand in Hand die zwei Kilometer nach Hause gegangen sind. Keiner hat vom anderen mehr gewollt als seine Hand, seine Gegenwart. Kein Sex, kein Küssen, keine Forderungen nach sonstiger Unterhaltung, nichts. Vielleicht ist es das, was ich damals gesucht habe, als ich diese 5 km Händchen haltend mit diesem Mädchen, dessen Name mir leider entfallen ist, durch diese Winternacht im Kleinwalsertal gegangen bin. Ich wollte nichts mehr als Verständnis, Ver­trautsein. Das erst musste Wirklichkeit werden vor allem anderen.



Tja, offenbar war das der falsche Weg, dann als dieser Spazier­gang dann aus war, hat sie sich nicht mehr um mich gekümmert, ist mir von da an ausge­wichen. Das war meine allererste Erfahrung in Sachen Liebe. Meine zweite Liebe, wann war die eigentlich? Als ich im Skikurs war, war ich 15. Da haben so ziemlich alle anderen schon heftig miteinander geknutscht.



Halt, da fällt mir ein, das war nicht meine erste Liebe, mein erstes Verliebtsein. Mein erster Schwarm war Jennifer, mit der ich gemeinsam in der 7. Klasse durchgefallen bin. Die hat mir eine Weile nachgestellt, aber ich konnte einfach nichts damit anfangen. Emotionen von Frauen mir gegenüber hatte ich bis dahin ja nur als äußerst gewalttätig, brutal, gemein, hinterhältig, erniedrigend und auf meine Vernichtung abzielend erlebt. Sie aber hatte schon einen Freund gehabt, hatte Erfahrung. Ich bin mir neben ihr wie ein dämlicher, kleiner Junge vorgekommen, obwohl ich körperlich der Größte in der Klasse war.



Wie gesagt, sie hat mir sicher ein halbes Jahr lang nachgestellt und ich konnte nichts damit anfangen, wusste nicht wo, wie, was. Sie ist mir schon in der 5. Klasse aufge­fal­len, als wir aufs Gym­nasium kamen, weil sie als einzige von den Mädchen schon einen Busen hatte und einen BH trug. Ich habe das lediglich registriert, nicht dass es mich zu diesem Zeitpunkt und in diesem Alter interessiert hätte. Sie war nämlich erst nach der 6. Klasse Volksschule aufs Gymnasium gekommen. Als sie es aufgegeben hatte mit mir, da hatte sie einige Zeit später einen anderen Freund, der gleich ein paar Klassen höher war und neben dem ich mir sowieso wie das letzte Kleinkind vorgekommen bin. Wenn ich sie danach mit ihm in der Pause habe zusammen stehen sehen, oder sie von ihm geredet hat, dann bin ich eine Zeitlang dabei rot angelaufen wie eine Tomate, so geschämt habe ich mich wegen meines offen­sicht­lichen Versagens, wegen meine totalen Unfähigkeit, auf ihre Avancen einzugehen.



 Ich hatte danach lange Jahre kein Verliebtsein mehr gespürt, gefühlt. Bin allen Mädchen aus­gewichen, habe mich innerlich immer mehr verhärtet. Gefühle zu erleben bedeuteten ja Gefahr, Gefühle zu zeigen machte einen angreifbar. Beim nächsten Mal war ich neunzehn. Ich bin damals, zum ersten Mal in meinem Leben, in Urlaub gefahren, allein. Mit Interrail nach Großbritannien. In einem zu einer Jugendherberge umgebauten Schloss in Schottland habe ich sie dann getroffen. Sie hieß Gudrun. Sie war genauso alt wie ich, nur ein paar Monate älter. Hatte aber im Gegensatz zu mir, der ich wegen meiner diversen Ehrenrunden erst in die 12. Klasse kam, in diesem Jahr Abitur gemacht und wollte Psychologie studieren. Mit ihr und ein paar anderen sind wir dann auf die Orkney Islands gefahren und irgendwie sind wir zwei immer zusammen gewesen, haben alles gemeinsam gemacht. Nach den Orkneys sind die anderen dann nach Schweden und ich bin mit ihr auf die Isle of Sky gefahren. Sie war die ganze Zeit vorher irgendwie still, reserviert, in sich gekehrt gewesen. Dann, auf der Zugfahrt, da hat sie auf einmal aus dem Fenster gezeigt und sich dabei halb auf mich gelegt. Das sollte wohl ihr Angebot an mich sein, aber ich habe es wie immer nicht oder zu spät kapiert und dann war die Gelegenheit auch schon wieder vorbei. Auf der Isle of Sky und später bei den Edinburgh Festspielen waren wir auch noch zusammen. Ich glaube, es waren insgesamt 14 Tage, die wir zusammen gereist sind.



In London haben wir uns dann getrennt. Die ganze Zeit auf der Fahrt von Edinburgh nach London hatte ich dieses bestimmte Gefühl im Bauch, wenn ich weiß, ich muss etwas Bestimmtes machen, aber ich habe nicht die geringste Ahnung was und wie. Ich fühlte mich wie ein Ochs vor dem Berg. Zum Abschied sind wir noch eine Stunde in den Hydepark gegangen und dort im Gras gelegen, haben den Wolken zugeschaut, die am Himmel vorbeizogen. Wie sie da so neben mir im Gras liegt, sich streckt, entspannt wirkt, bekomme ich endlich den Mut, sie zu küssen. Ich beuge mich zu ihr hin, aber sobald sie meine Absicht bemerkt, verschränkt sie die Arme, die sie gerade über den Kopf ausgestreckt hatte, vor dem Gesicht. Aus, vorbei. Ich fühle wieder dieses Versagergefühl in mir hoch­steigen. Neunzehn Jahre bist du jetzt alt, noch nie hast du eine Frau geküsst. Werde ich da je machen, lernen oder werde ich mein ganzes Leben lang allein sein? Dann trennen wir uns, ich versuche so gut es mir gelingt, ein gleichmütiges Gesicht zu machen. Wir gehen in entgegengesetzte Richtungen, aber nach einer Weile schaue ich mich verstohlen um. Sie geht geradeaus, ohne sich noch einmal umzublicken. Ich gehe zum Bahnhof, mein Herz hämmert Gudrun, Gudrun, Gudrun, meine Schritte gehen Gudrun, Gudrun, Gudrun. Ich sitze im Zug nach Salisbury, Stonehenge. Der Zug rattert Gudrun, Gudrun, Gudrun.



In Salisbury in der Jugend­herberge, beim Essen machen, zum ersten Mal seit zwei Wochen allein, erfasst mich die Einsamkeit. Ich spüre plötzlich eine entsetzliche Öde, Einsamkeit in mir und ich könnte mich in den Arsch beißen über mein Unvermögen, meine Dummheit, wieder mal den richtigen Zeitpunkt verpasst zu haben. Ich denke mir, dass doch richtige Liebe nicht nur von diesem einen, winzigen Augenblick abhängen kann, in dem sie sich mir angeboten hatte. Abends, im Bett, wird die Einsamkeit noch viel schlimmer, Sie ist geradezu entsetzlich. Da ich weiß, in welcher Jugendherberge in London sie übernachtet, beschließe ich, morgen nach London zu fahren, ganz in der Frühe, um sie noch vor Verlassen der Jugendherberge abzufangen, ihr meine Liebe zu gestehen, ihr zu sagen, dass all meine Gedanken nur um sie kreisen, dass ich an nichts anderes mehr denken kann, morgens, mittags, abends, nachts.



 Am nächsten Morgen fahre ich dann nach London. Ewig braucht der Zug, ewig die U-Bahn, ich renne richtig durch den Park auf die Jugendherberge zu und habe Glück. Sie kommt gerade aus der Jugendherberge raus, mit zwei anderen Typen und mein Herz macht einen Luftsprung, dass ich sie noch erwischt habe, und gleichzeitig fällt es mir in die Hose, aus Angst vor ihrer Reaktion, einer möglichen negativen Reaktion. Sie schaut mich etwas verwundert an, begrüßt mich kurz, und dann gehen wir alle vier die Straße hinunter. Ich komme mir reichlich doof vor und auch ziemlich fehl am Platze, aber warte trotz alledem ungeduldig auf den Moment, in dem wir mal allein sind und ich ihr alles sagen kann. An diesem Tag hätte ich mich nicht abschütteln lassen, ich hätte sie durch die ganze Stadt verfolgt, den ganzen Tag. Nach ungefähr fünf Minuten gemeinsamen Weges schlagen die zwei Typen eine andere Richtung ein und sie schaut mich an, wirkt ziemlich ungehalten. Ich kann meine aufgestauten Gefühle nicht mehr zurückhalten. Ich sage ihr alles, was ich mir vorgenommen hatte, es sprudelt so richtig aus mir heraus, damit sie auch keine Chance hat, mich zu unterbrechen. Ich bin fertig, einen Moment ist Stille. Was kommt?



Und es kommt Ablehnung, heftige Ablehnung, und ich höre gar nicht richtig hin. Verschließe mich, damit es nicht an mich rankommt und mich nicht verletzt. Ich weiß gar nicht mehr, was sie gesagt hat. Ich habe es eigentlich nie gewusst, weil ich nicht richtig zugehört hatte. Es hätte mich zu fertig gemacht. Wir fahren noch ein Stück gemeinsam mit einem Bus. Ich schaue sie zwischendrin mal von der Seite an, sie wirkt jetzt ruhiger. Jetzt fällt mir wieder ein, was sie gesagt hat. Dass sie mir nie irgendwelche Hoffnungen gemacht hätte und mich deswegen auch nicht versteht. Was das solle? Ich verabschiede mich dann von ihr, versuche dabei mög­lichst unbeteiligt zu wirken, meine Verletzung nicht zu zeigen. Gehe. Mein Herz klopft Gudrun, Gudrun, Gudrun, noch Monate lang. Ich kann ihre Ablehnung nicht akzeptieren, meine Gefühle nicht unterdrücken, die ich zum ersten Mal gespürt habe.



 Wieder zurück in der Schule, schreibe ich einen Sechser nach dem anderen, es berührt mich wenig. Gudrun, Gudrun, Gudrun. Dann kommt der Tag, der 30. September. Wir hatten schon vorher ausge­macht, dass wir uns an diesem Tag treffen, Dias und Bilder unserer Reisen anschauen und austauschen. Sie wohnte ungefähr 40 km von mir entfernt. Ich fahre schon morgens los, ziellos in der Gegend rum. Ich will erst um 15.00 Uhr dort sein, das erscheint mir die passende Zeit für einen solchen Besuch. Pünktlich um 15.00 Uhr stehe ich vor ihrem Haus, läute. Ein Typ kommt heraus, wahrscheinlich ihr Bruder. Ich frage nach Gudrun. Sie ist nicht da, in Freiburg, Wohnung suchen. Ich gehe wieder. Bin verstört, konfus, lasse das Ganze nicht an mich heran. Ich fahre ziellos durch die Gegend, statt 40 km für den Heimweg fahre ich sicher 200 km. Gudrun, Gudrun, Gudrun, noch lange geht alles allein nach diesem Rhythmus. In der Schule schreibe ich einen Sechser nach dem anderen, es ist mir alles so egal. Gudrun, Gudrun, Gudrun spukt es in meinem Kopf, für was anderes ist kein Platz.



Ich habe sie nie wieder­gesehen. Ich habe auch nie versucht, wieder einen Kontakt zu ihr herzustellen, obwohl ich ja ihre Adresse und Tel.-Nr. hatte und sie nicht allzu weit entfernt wohnte. Zu peinlich war die Erinnerung an diese letzte Begegnung und die damit verbundene Abfuhr gewesen. Trotzdem war ich meinen Erinnerungen nach mindestens noch ein halbes Jahr, wenn nicht noch länger, völlig von der Rolle, immer noch in sie verknallt. Diese Phantasie war wahrscheinlich eine Flucht aus der traurigen und so furchtbaren Realität, die mein Zuhause für mich bedeutete. War sie doch auch die erste Frau in meinem Leben gewesen, die mich in diesen zwei Wochen als Mensch akzeptiert hatte, die mich zumindest bis zu diesem Ende nicht abgelehnt hatte. Eine Erfahrung, die ich bis zu diesem Zeitpunkt ja noch nie hatte erleben dürfen.



  Ich habe jetzt beim Schreiben zum ersten Mal Hass auf sie empfunden, dass sie mich hat so auflaufen lassen. „Blöde Kuh“, denke ich mir, „Psychologie hat sie studieren wollen, wahrscheinlich hat sie es selber am Nötigsten gebraucht.“ Da sprechen jetzt aus mir wohl meine damals verletzten Gefühle. Ich bin da wohl auch sehr unge­recht zu ihr. Wahrscheinlich schäme ich mich auch nur über meine damalige Hilflosigkeit und Tollpatschigkeit. Da ist es doch einfacher, diese Schamgefühle hinter Aggressionen zu verbergen als sie zuzulassen.



...



Meine Beziehungen zu Frauen waren zunächst immer geprägt von Misstrauen. Es war zunächst eher die Suche nach einem Freund, einer Freundin, platonisch, nichts Sexuelles. Ich wollte erst eine Basis schaffen, Vertrauen spüren und selber erleben, bevor ich mit einer Frau ins Bett gehe. Es sollte leicht sein, spielerisch, verliebt, zwanglos, ohne Angst vor Forderun­gen und Ver­sagen. Ich wollte meine Lebensfreude erst entdecken, sie spielen lassen, auspro­bie­ren, plänkeln, spielerisch fangen und loslassen. Und ich hatte Angst, riesengroße Angst, vor diesem Miteinanderschlafen, und diese Angst wollte ich mit dieser Spielerei abbauen, mich meinen Körper, meine Gefühle, erforschen.



Und ich wollte vor allem kein Schwein sein. Nun waren meine Schwestern nur wenig älter und jünger als ich und daher waren immer pubertierende Mädchen im Haus. Wenn sie Zuhause von anderen Jungen oder Mädchen erzählt haben, etwa ein Pärchen  hätte sich getrennt oder ein Mädchen sei schwanger, war der Standardkommentar meiner Mutter: „Die Männer sind alle Schweine!“  Das hat sie oft auch in Anwesenheit meines Vaters gesagt, ohne dass er ihr jemals ins Wort gefallen wäre und sich das verbeten hätte. Ich habe diesen Spruch in meiner Pubertät so häufig gehört, dass ich letztendlich für mich daraus den Schluss gezogen habe, dass die männliche Sexualität doch irgendwie schweinisch ist. Und die Frauen sie nur einem höherem Zwecke wegen, nämlich der Fortpflanzung, über sich ergehen lassen. Außerdem bin ich Frauen gegenüber immer unterwürfig aufgetreten. Das war auf meinen schon in der frühen Kindheit geforderten Selbsterhaltungstrieb zurückzuführen, der zu meinem Überleben unabdingbar war.



So habe ich denn, wenn ich doch mal ein Mädchen kennengelernt habe, erst einmal versucht, mein sexuelles Verlangen zu unterdrücken (kein Schwein sein!) und mich ihr auch noch, sozusagen auf dem letzten Meter, unterwürfig genähert. Die sahen zunächst einen 1,90 m großen, blonden und gutaussehenden Mann, der sich bei näherer Betrachtung als rückgratloser Wurm herausstellte. So hat mich wahrscheinlich auch Gudrun erlebt. Ich habe erst Jahre später kapiert, dass die Frauen meine Sexualität gesucht haben, um auch ihre Ausleben zu können. Dass Sex zu einer Beziehung gehört. Dass Frauen Sex haben wollen. Und das mit einem souveränen, wenn nicht sogar dominanten Mann.  Und nicht mit einem unterwürfigen.



Dieser Text ist entnommen dem Buch "Stumme Schreie - Ein Mann auf der Suche nach seinen Gefühlen, Band I: Verzweiflung" erschienen als ebook bei Amazon http://www.amazon.de/Verzweiflung-Stumme-Schreie-Gef%C3%BChlen-ebook/dp/B009KJI3HO/ref=sr_1_1?s=digital-text&ie=UTF8&qid=1349254179&sr=1-1



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