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Daumen hoch! Eine Ode an die aussterbende Spezies des Trampers

Text: VinzenzFedor

Immer seltener sieht man am Straßenrand Menschen, die den Daumen in die Luft recken, um mitgenommen zu werden. Noch rarer sind die Exemplare, die schwer bepackt mit einem Trekking-Rucksack und beschrifteten Schildern in den Urlaub fahren. Dabei müsste doch gelten: „Verreist du noch, oder trampst du schon?“



„Was ist mit eurer Generation los?“, fragt der bärtige Taxifahrer aus Kärnten, dessen grau-durchsträhnte Mähne bis zum Steißbein reicht. Wir sitzen in einem Taxi von Ljubljana nach Klagenfurt. Jeder von uns dreien mit einem fetten Rucksack, Schweißperlen auf der Stirn und entsprechenden Ringen unter den Achseln. „Ich bin damals noch von Südspanien nach Österreich getrampt!“ Er – nennen wir ihn mal Franz – hat uns kostenlos mitgenommen. Die Fahrt zum Flughafen der slowenischen Hauptstadt war schon bezahlt. Warum also nicht auf dem Rückweg drei Tramper mitnehmen? Für uns fährt Franz sogar extra eine Nebenstrecke, erklärt die Gesteinsarten, die hier vorkommen. Dann zeigt er uns noch lachend den Schrein, der für den verstorbenen Rechtspopulisten Jörg Haider errichtet wurde. 



Die sicherheitsbedürftige Generation trampt weniger



Auf der Fahrt mit Franz werden mir zwei Dinge klar. Erstens: Per Anhalter zu fahren schließt auch immer eine zwischenmenschliche Begegnung mit ein, die super spannend sein kann. Zweitens: Die Spezies des „Homo mit Daumen erectus“ stirbt aus. Aber mal von vorn… Ich komme aus einer der zahllosen Peripherregionen Deutschlands – ich bin so schnell in Österreich wie in der nächst größeren Stadt, die Schweiz liegt näher als München. Für uns war es Gang und Gäbe zu trampen. Wie sonst sollte man zu einem Kumpel aufs Dorf kommen? Wie sonst sollte man in die Stammkneipe in der anderen Stadt gelangen? Auch mit Führerschein war das noch so – häufig bekam man das Auto nicht oder wollte denn doch mit den Freunden einen heben. Das heißt, dass Trampen ein Teil meiner Sozialisation ist. Wenn ich dann mal die Karre bekam, nahm ich immer Leute mit, weil ich ja weiß, wie es sich so am Straßenrand anfühlt.



Und genau deshalb wird meine Spezies aussterben: Viele Leute in unserem Alter wissen gar nicht, wie sich Trampen anfühlt. Und dann gibt es ja noch die vielen Schauergeschichten von Wahnsinnigen, Pädophilen, Kettensägenmördern, die durchaus Abschreckungspotenzial besitzen. Die Wahrscheinlichkeit, einen Anhalter mitzunehmen, wenn ich selbst nie bei einem Fremden eingestiegen bin, ist gering – gerade in unserer Generation, die so sicherheitsbedürftig ist. In der Konsequenz bedeutet dies, dass auch eingefleischte Däumlinge irgendwann die Nase satt haben, wenn Sie schon anderthalb Stunden warten, wobei sie doch nur fünf Kilometer weiter wollten. Aber die Devise lautet: Nicht aufgeben! Denn Trampen bietet einfach zu viele Vorteile.



Erstens spart man enorm viel Geld. In Zeiten, da Bahnpreise vierteljährlich erhöht werden und der Benzinpreis in keiner gesunden Kosten-Nutzen-Relation mehr steht, ist es durchaus attraktiv nicht einen Cent zu bezahlen. Manchmal hat man sogar noch das Glück, dass Gummibärchen gereicht werden oder – Sympathie vorausgesetzt – der Fahrer ein Bierchen springen lässt (so geschehen auf einer Fahrt vom österreichischen Spital nach Passau).



Zweitens begegnet man interessanten Leuten. In welcher Konstellation ist es vorstellbar einen Deutschrussen zu treffen, der davon erzählt, dass Afghanistan zwar stressig, die Leute aber unglaublich nett wären? Oder einen quirligen Arbeitslosen, der dir erklärt, dass man Häuser aus Stroh bauen kann und dann nur noch abdichten muss? Eine türkische Hip-Hopperin oder einen französischen Pensionär in einem alten Fiat, dessen Onkel nach dem Zweiten Weltkrieg keine Offizierslaufbahn einschlagen durfte, da er einen deutschen Vornamen trug? Eine Mormonenfamilie aus der Normandie? Und hier liegt auch der Grund, weshalb man in anderen Ländern trampen sollte: Man lernt Leute außerhalb von Hostels, Campingplatzen und Couchsurfing kennen. Zudem sieht man wirklich was vom Land und Einheimische sind ja bekanntermaßen die besten Führer, die Insiderwissen vermitteln können. Das Sprachtraining, dem man sich dabei unterzieht darf auch nicht außer Acht gelassen werden.



Trampen als erlebnispädgagogisches Komplettpacket



Drittens ist Trampen eine spaßige Lotterie ohne feststellbare Wahrscheinlichkeiten. Wie häufig hat man die langen Haare unter seiner Mütze versteckt, gelächelt, dann mal flehend mit den Händen gerungen, getanzt? Man weiß nicht, ob man drei Minuten oder drei Stunden steht – ein Urlaub per Anhalter kann so schnell zur psychischen Zerreisprobe werden. „Hätte ich bei dem schwarzen Opel meinen tätowierten Arm hinter dem Rücken verstecken sollen?“ „Frag ich in der Schweiz auf Deutsch oder doch lieber Englisch?“  „War mein Zwinkern zu aufdringlich?“ „Soll ich das Endziel oder einzelne Etappen aufs Schild schreiben?“ „Oder gleich eine Himmelsrichtung? Oder ‚Hilfe‘? Aaaaaahhh… Was mach ich hier?“ Dieses Auf und Ab der Gefühle, das Leiden unter prasselndem Regen, sengender Sonne, singenden Fahrern mit einer Best of Backstreet Boys-Scheibe in Endlosschleife… Das sind Herausforderungen, an denen man wachsen und reifen, aber auch zerbrechen kann.



Denn Trampen ist anstrengend und nichts für Weicheier und durchgeplante Zeit-Nutzen Maximatoren. Deshalb hab ich auch noch nie mehr als die Hälfte einer Reise mit Daumen und Karton-Schild durchgehalten. Aber mein letzter Tramp-Trip hat sich dennoch gelohnt: Ich habe mir in einem Cabrio einen Sonnenbrand eingefahren, nur einmal nasse Füße bekommen, zwei Mal nach Rauch gestunken, und ich wurde nur zwei Mal angeschwiegen. Trampen ist eben mehr als reiner Fortbewegungsmodus, mehr als Reisen… Es ist ein erlebnispädagogisches Komplettpacket für Geist und Körper.



 



PS: Meine letzte Anhalterreise hat mein Französisch auf Vordermann gebracht, ich weiß jetzt, dass die Franzosen im Winter 1989 auf den Dünen am Atlantik Skifahren konnten, habe Kommunisten und Surfer, Arbeiter in einer Papierfabrik und Stierkampf-Befürworter kennengelernt. Nebenbei habe ich Pi mal Daumen 90 Euro gespart. Daumen hoch!






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