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Der missverstandene Oberpirat

Text: miamoria

In der Universal Hall in Berlin-Moabit ist es an diesem kühlen Spätsommermorgen längst nicht so voll wie am Tag zuvor, als der neue Landesvorstand gewählt wurde. Etwa 200 Piraten sitzen in der Halle, die meisten an ihren Laptops, auf der Bühne stehen 10 Piraten mit Mandat. Nächster Tagesordnungspunkt: Aussprache mit der AGH-Fraktion.
Im Berliner AGH sitzen 15 Piraten, einige davon fehlen auf der Bühne. Susanne Graf ist krank, Gerwald Claus-Brunner ist ebenfalls noch nicht anwesend, es hatte sich am Abend zuvor via Twitter noch das ein oder andere Drama abgespielt.



Christopher Lauer tritt ans Mikrophon. Was jetzt kommt, wird die Presse später als Weckruf an die Basis beschreiben. Er spricht von mangelnder Beteiligung der Basis, von den Schattenseiten der Medienpräsenz, davon, dass es unangenehm ist, immer und überall erkannt zu werden. Dass er das dennoch gerne tut, wenn die Partei das braucht. Das scheint das Problem zu sein. Die Partei ist sich gar nicht so einig, ob sie das braucht. Kürzlich hat Lauer auf SPON geschrieben, es sei ja schön und gut, wenn die Piraten tolle Volleyballer seien. Das Spiel heiße aber nun mal Fußball. Diese Realität ist nicht sehr beliebt bei einigen Piraten. Themen statt Köpfe lautete die Parole, wenn Lauer oder ein anderer, prominenterer Pirat eben jenen Kopf mal wieder vor eine Kamera gehalten hat. Nach den aktuell geltenden Regeln müssen diese Themen aber aus Köpfen kommen, am besten Köpfen mit Wiedererkennungswert. Dass Lauer und Co. ihren Kopf nicht nur vor Kameras, sondern damit auch ganz generell hinhalten, für vieles, was in dieser Partei schief läuft, wofür sie im einzelnen häufig wenig bis nichts können, wogegen sie sich trotzdem verteidigen müssen, wird ausgeblendet. Es sind die neuen "Die da Oben". Lauer spricht davon, dass die Partei das, was sie immer kritisiert habe, das Oben und Unten, anfange, innerhalb der Partei abzubilden. Dass das aber überwunden werden muss, sonst würden sich die Leute 2016 zu Recht fragen, was denn die Piraten anders machen. Das Spiel mit den Medien kann nicht einseitig abgepfiffen werden, zumindest nicht, wenn man nicht mehr oder weniger wirkungslos als APO fungieren will. Politik, Politiker brauchen die Medien, um zu transportieren, Reichweite zu haben, auch wenn die Piraten mit ihrer Netzverbreitung und der internetaffinen Zielgruppe wohl am wenigsten auf die klassischen Medien angewiesen sind. Dennoch, wenn nach einer Ausschussitzung die Kameras laufen und Statements gefragt sind, dann braucht man nun mal jemanden, der da nun was sagt. Lauer fragt die Piraten, die sich Basis nennen, und doch längst nicht die 3800 Mitglieder sind, die die Piraten Berlin laut Morgenpost haben, ob er dann auf einen von ihnen verweisen soll, obwohl er selbst ja im Ausschuss war, und die Basis eben nicht.



Wenn man Lauer so sieht, sieht man einen ernsthaften jungen Mann. Er wirkt ernüchtert, enttäuscht, ja auch verletzt. Die Beschimpfungen via Twitter, der Applaus, den andere bekommen, wenn sie mal wieder auf der AGH-Fraktion rumhacken, das scheint ihm zuzusetzen, wer kann es ihm verdenken. Für die Medien ist er der Oberpirat, so wird er dann tatsächlich mal beim Bäcker angesprochen, Gunnar Schupelius versucht ihn zum ADHS-Pirat zu machen, Lauer besteht darauf zumindest nicht nur über ADHS zu reden. Bei Maybrit Illner bringt er Kurt Beck fast zum platzen, bei Anne Will amüsiert er sich köstlich über Bärbel Höhn, die sagt, sie "gucke Internet", und sich derartig um Kopf und Kragen redet, dass Altmaier ihr schließlich empfiehlt, lieber nichts mehr zu sagen, da sie den Piraten nur noch mehr Wähler bescheren würde. Lauer wirkt schon mal arrogant, wenn er sich nicht in den politischen Gegner verbeisst, schon weil es einfach kein klares Feindbild gibt, zumindest nicht in den etablierten Parteien. Es gibt entgegengesetzte Einstellungen, vor allem aber gibt es Strukturen, gegen die man sich erwehrt. Ein Ihr-seid-alle-doof wie zwischen Linken und FDP wird man wohl zwischen der Piratenpartei und den anderen Parteien kaum finden. Dazu ist man zu undogmatisch. Als es um Nürburgring, Schlecker geht wird Kurt Beck fast rasend darüber, dass Lauer ganz ruhig bleibt. Die lauten Töne sind nicht Lauers Art, er brüllt niemanden nieder, er wird sarkastisch, zynisch, zieht sich im Zweifel auch mal aus einer Fraktionssitzung zurück, wenn es ihm zu viel wird. Bei kaum jemandem ist der Unterschied zwischen einem echten Grinsen und einem Show-Grinsen so klar zu erkennen, er verstellt die Stimme dazu, spricht nasal, das Show-Grinsen soll als solches zu erkennen sein, wenn er Anne Will auf die unsägliche Frage, wo er seine Augenklappe habe, antworten soll. Bei Stuckrad-Barre zieht er eine 45-Minütige, dauerrauchende Politikerdarstellung ab, Lauer hat jahrelang in Bonn Theater gespielt, er hat ein gewisses Sendungsbewusstsein. Stuckrad-Barre, das ist keine politische Talkshow, hier braucht man nicht mit Themen kommen, Lauer zelebriert diesen Auftritt, gibt an, möglichst humorlos rüberkommen zu wollen, Stuckrad bescheinigt ihm Erfolg. Seine Kommentare auf Twitter strotzen dagegen häufig vor Selbstironie. Sein Humor transportiert sich gut, auf 140 Zeichen.
Ein gewisses Sendungsbewusstsein scheint er bei seinen Parteikollegen häufig zu vermissen. Als in der ersten Fraktionssitzung das Thema auf die anstehende Wahl zum Fraktionsvorsitzenden fällt, und sich einige seiner Kollegen über die mangelnde Transparenz beklagen, weil Lauer und Andreas Baum am Abend zuvor herumtelefoniert haben und ankündigten, gemeinsam kandidieren zu wollen, merkt man deutlich, wie sehr es ihm auf die Nerven geht, dass den anderen nicht klar zu sein scheint, welchen Eindruck sie erzeugen. "Die Gelegenheit ist gut um sich zu produzieren, wir können den Karren jetzt natürlich voll vor die Wand fahren lassen" sagt er ruhig, mit deutlichem Unwillen in der Stimme. Lauer ist einigen Kollegen zu pragmatisch. Transparenz soll sein, aber man muss ihr nicht alles opfern, man muss sich zumindest bewusst sein, dass man dann permanent auf Sendung ist. Basisdemokratie ist die Grundlage der Piratenpartei, aber wenn von der Basis nichts kommt, muss eben trotzdem entschieden, gehandelt werden. Wenn die Medien anfragen, muss sich eben einer vor die Kamera stellen. Lauer, der das am Anfang vielleicht noch als Privileg empfunden haben mag, macht das zwar immer noch gerne, wie er sagt, aber nur, wenn es der Partei was bringt, und es bringt der Partei wenig, wenn er für jeden Medienauftritt aus den eigenen Reihen gescholten wird. Statt mit ihm zu reden, reden die Parteikollegen über ihn. Das scheint ihn wirklich zu treffen. Er gibt sich den ganzen Medienhype nicht, um im Rampenlicht zu stehen, er sagt, da könne man lieber Reich als Berühmt werden. Es sei nicht schön, permanent auf Twitter gepostet zu bekommen wo man ihn gerade gesehen hat, wo man sich nicht getraut hat ihn anzusprechen. Aber worauf soll man ihn auch ansprechen? Die meisten haben dann wohl doch eine ausreichende Hemmschwelle, ihn nicht auf offener Straße spontan mit Fragen und Kommentaren einzudecken. Sich das Posten bei Twitter und Facebook zu verkneifen, so weit reicht die Hemmschwelle aber nicht. So ist das wohl, im Web 2.0
Wenn Lauer im AGH auf der Rednerliste steht, kann man sich in der Regel auf ein regelrechtes Feuerwerk einstellen. Lauer ist schnell, schlagfertig, witzig, ohne permanent in Klamauk zu verfallen. Er bringt Dinge in einer Sprache auf den Punkt, die mitreißt, wenn er von Herrn oder Frau Referentenentwurf spricht, wenn er die Hinterbänkler der Fraktionen anspricht, ob sie sich das so vorgestellt haben, fünf Jahre lang alles abnicken was irgendein Referent einreicht. Der wohl emotionalste Auftritt ereignete sich, als die SPD im AGH mit irrsinnigen Spielchen eine groteske Situation erzeugte, in der eine aktuelle Stunde abgehalten wurde, deren Sinnhaftigkeit sie fünf Minuten zuvor qua Pressemitteilung ad absurdum geführt hatte. Seine Stimme überschlägt sich, diese Unernsthaftigkeit, die Tricks und Spielchen und Intrigen und Schachereien im Senat, in den Koalitionsverträgen, das ist etwas, was er nur schwer ertragen kann. "Was erlauben SPD" paraphrasierte er Trappatoni, trägt ein Zitat von Ernst Busch vor, es geht in der aktuellen Stunde um eben jene Ernst-Busch-Schule. In einem Podcast mit Holger Klein verbringt er die letzten 20 Minuten damit, sehr frustriert und wütend über die Zustände im Abgeordnetenhaus zu sprechen. Der Frust über das politische Geschachere ist ihm überdeutlich anzuhören, auch wenn man noch im Ohr hat, wie er im Verlauf des Podcasts zu humoresker Höchstform aufgelaufen war, mit Kir Royal Zitaten ("Mit Cash! Im Koffer!"), abwegigen und sehr amüsanten Spinnereien, er funktioniert sehr gut im Gespräch mit Holger Klein. Die letzten 20 Minuten sind dann fast ein ernüchternder Schock. Man hat den Eindruck, kurz hinter die Kulisse zu gucken, dahin, wo es weh tut, wo die Politik zwar nicht schmutzig, aber ekelhaft ist, verkrustete Strukturen.
Christopher Lauer, das ist nicht der Spaßpirat, der rumblödelnd durch Talkshows zieht, auch wenn er sich den ein oder anderen Gag nicht immer verkneifen kann, warum sollte er auch. Dennoch, Spaß, das ist etwas was man ihm selten anmerkt. Konzentration, Ungeduld dann schon eher. Stuckrad, bei dem ebenfalls ADHS im Erwachsenenalter diagnostiziert wurde, fasst es im Gespräch mit Lauer so zusammen: man merkt immer ein bisschen früher als die anderen, wenn etwas langweilig wird. Lauer sagt, er sei dadurch oft schnell in der Lage, Strukturen zu erkennen, Abläufe zu analysieren. Das merkt man auf der Landesmitgliederversammlung ebenfalls. Mehrfach bringt er in verfahrenen Situationen Anträge ein, ob inhaltlich oder zur Geschäftsordnung, die den gerade sich festzurrenden Knoten entwirren können. Ein mal scheitert er, winkt ab, zieht den Antrag zurück, er wirkt genervt, enttäuscht. Ein anderes Mal hat er in Windeseile die vorgetragenen Bedenken gegen einen zur Diskussion stehenden Antrag in einem neuen Antrag verarbeitet. Er stellt den Antrag vor, Martin Delius, der Heiko Herberg bei der Verteidigung des Antrags vertritt, zieht diesen sofort zurück, nicht weil er beleidigt ist, sondern weil er sieht, dass Lauers Antrag besser formuliert ist, mehr Chancen auf Erfolg hat. Nach kurzer Diskussion ändert Lauer noch mal hier und da was am Antrag, dann wird abgestimmt, der Antrag wird angenommen. So flexibel, so schnell in der Reaktion kann Basisdemokratie dann eben doch sein, auch wenn hier nicht die ganze Basis vertreten ist, und Delius anmerkt, solche Debatten solle man wirklich besser im Liquid Feedback durchführen. Als spät am Abend endlich, nur noch mit geringer aber beschlussfähiger Beteiligung darüber abgestimmt wird, Klarnamen im Liquid Feedback einzuführen, und dieser Antrag eine Mehrheit findet, da merkt man ihm die Freude an. "Das Ende der Liquid Wars" wird man später auf Twitter lesen, die Klarnamen-Diskussion zog sich über Jahre. Dass das Ende der Liquid Wars doch noch nicht erreicht ist, werden die nächsten Tage zeigen. Ein Beschluss killt in dieser Partei nicht die Debatte. Dazu ist man zu wenig bereit, Zustände einfach anzuerkennen, auch wenn sie selbstgeschaffen sind.
Die Basis reibt sich an Lauer, man verachtet und verehrt ihn, meist für die Gleichen Dinge, Verhaltensweisen. Vielleicht ist er dadurch wertvoller für die Partei, als wenn er unumstrittene Strahlkraft hätte. An ihm entbrennt sich immer wieder der Diskurs über Mediendarstellung, Personenkult, Umgang mit den publizistischen Strukturen. Vielleicht leistet er mit seiner polarisierenden Wirkung mehr für die Piraten, als ihm und den Piraten klar ist. Es bleibt zu hoffen, dass er sich davon nicht aufreiben lässt

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