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Stefan Raab, der Talkshow-Messias

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Die Fernsehkarriere des Stefan Raab hatte schon viele Überraschungen parat. Zum Beispiel die der ungewöhnlichen Sitzgelegenheiten. In seiner Sendung "Ma’ Kuck’n", die Mitte der Neunziger einmal monatlich auf Viva lief, durften seine Gäste nicht auf einer Couch oder Sesseln Platz nehmen. Sie saßen auf einem Krokodil, einem Wal oder einem Hamburger, auf beweglichen elektronischen Schaukelpferden, wie sie vor Supermärkten oder Kaufhäusern standen, um Müttern nach dem Einkauf noch ein bisschen Kleingeld aus der Tasche zu ziehen. Raab hatte einen Knopf auf seinem Schreibtisch, mit dem er die Wackelmöbel in Bewegung setzen konnte. Die Gäste wurden dann ein bisschen durchgewackelt, die meisten taten sich sehr schwer damit, dabei nicht lächerlich auszusehen und sich noch auf das zu konzentrieren, was sie eigentlich gerade sagen wollten.

Das ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie Stefan Raab es immer wieder schafft, Dinge anders zu machen, und vor allem: sie so zu machen, dass dabei etwas Interessantes herauskommt. Deshalb ist es eine gute Nachricht, dass er ab 11. November auf ProSieben ein neues Talkshow-Format an den Start bringen will.   Die Sendung soll „Absolute Mehrheit – Meinung muss sich wieder lohnen“ heißen und zeitgleich zu Jauchs Talkrunde in der ARD laufen. Eine Kampfansage: „Herr Jauch hat in unseren Zielgruppen einen recht überschaubaren Marktanteil. Wir wollen ihn da natürlich schlagen“, sagte Raab dem Spiegel. Er wolle „die einzige relevante Talkshow im Privatfernsehen machen“ und „die jungen Zielgruppen mit solchen Formaten wieder für Politik interessieren“. Ein Mal im Monat will er fünf Talkgäste, darunter „zwei bis drei Berufspolitiker, ein Promi und ein Normalbürger“, versammeln, um sie um die absolute Mehrheit der Zuschauer kämpfen zu lassen. Wer am Schluss die Zustimmung von mehr als 50 Prozent der Zuschauer bekommt, wird mit einem Preisgeld von 100.000 Euro belohnt.

Das mag sich zunächst nach einem Konzept anhören, das das Oberflächliche der Politik betont, das Geschachere um Sympathiewerte und kurzfristige Wählergunst. Ein Konzept also, das der jugendlichen Zielgruppe des Senders ProSieben und des Entertainers Raab ein nicht bis ins Letzte vorbildliches Politikverständnis mit auf den Weg gibt. Das kann man kritisieren. Zunächst mal muss man aber sagen: Es ist ein Gewinn, wenn eine politische Talkshow überhaupt junge Leute erreicht. Das Durchschnittsalter der Zuschauer öffentlich-rechtlicher Politik-Talkshows liegt bei 63 Jahren.

Diese Überalterung der Zuschauer ist Folge einer Krankheit, an der die Öffentlich-Rechtlichen schon lange leiden: der Angst vor Innovation, der Phobie vor dem Ausprobieren. Frische Formate werden auf Digitalkanälen versteckt, bis davon mal etwas ins Hauptprogramm rutscht, ist das Frische alt geworden. Wer mal versucht hat, sich eine Woche lang jede politische Talkshow auf ARD und ZDF anzuschauen, wird am Ende Mühe haben, sich daran zu erinnern, was in welcher Sendung passiert ist. Zu ähnlich sind die Themen, zu eintönig ist der Sendungsaufbau, zu erwartbar die Zusammenstellung der Gäste – der auffälligste Unterschied ist oftmals nur die Sitzgelegenheit (allerdings nicht so sehr, dass man von einem raabschen Schaukelpferd-Effekt sprechen könnte). Auch Günther Jauchs Einwechslung auf den Sonntagabend-Sendeplatz hat nicht den von vielen erhofften frischen Wind gebracht.

Stefan Raab könnte schaffen, was Jauch verpasst hat. Er könnte der Impulsgeber sein, den die Talklandschaft braucht, um ein junges Publikum zu erreichen. Er hat mehrmals bewiesen, dass er sehr gut darin ist, neue Formate zu entwickeln. Ob er die Absurditäten des TV-Alltags auseinandernahm, eine Bauchplatscher-Orgie entfachte, in den Boxring stieg, (Halb-)Promis in Kochgeräten einen Eiskanal hinabjagte oder im Mehrkampf gegen Durchschnittsdeutsche antrat – seine Ideen trafen immer den Nerv des Publikums. Wichtiger noch: Er hat gezeigt, dass er fast schon gestorben Geglaubtem neues Leben einhauchen und banale Formate mit Gehaltvollem kombinieren kann: Als er für Deutschland eine Eurovision-Vertreterin fand, die einem nicht von Vornherein bis zum Fremdschämen peinlich sein muss. Als er der ARD und den Bohlens und Detlef D. Soosts zeigte, wie man eine sympathische und glaubwürdige Castingshow macht. Warum soll sein Gespür nicht auch diesmal greifen?

Die größte Skepsis ist wohl angebracht, was Raabs Fachkompetenz angeht. Durch politische Analysen hat er sich bislang nicht hervorgetan, er hat keine langjährige Erfahrung mit Politiker-Interviews. Aber Raab ist mit erstaunlich gutem Allgemeinwissen ausgestattet, das hat er in zahllosen Folgen der Quizrunde „Blamieren oder Kassieren“ in seinen Sendungen gezeigt. Und Raab ist ehrgeizig: Er liebt den Wettbewerb, er hasst es zu verlieren – allein deshalb wird er alles daran setzen, ausreichend informiert und vorbereitet in seine Sendungen zu gehen.

Selbst wenn Raabs neue Sendung nicht sofort alle Probleme der Politikverdrossenheit und der Talkshows lösen wird, kann man sich freuen, dass er sich des Themas annimmt. Raab kann sich in seine Visionen verbeißen, man könnte ihm ob seiner Hartnäckigkeit eigentlich denselben Spitznamen geben wie Berti Vogts, den er 1994 besang: Der Terrier. Lenas Eurovision-Sieg war auch der Höhepunkt einer langen Entwicklung. Als Raab begann, sich mit dem Sänger-Wettstreit zu befassen, fuhr er die totale Blödeltaktik. Unter dem Namen Alf Igel schrieb er 1998 „Piep, piep, piep“ für Guildo Horn, zwei Jahre später hüpfte er mit Augenkrebskostüm und dem Song „Wadde hadde dudde da“ über die Bühne. Erst 2004 fand er auf eine ernstere Schiene: Er schickte Max Mutzke nach Istanbul, der Gesangswettbewerb dort war Raabs Trainerschule für den späteren Lena-Erfolg.

Raab hat jetzt beschlossen, sich weiterzuentwickeln und einer weiteren Sparte des deutschen Fernsehens seinen Stempel aufzudrücken. Der Terrier hat zugebissen. Er wird so schnell nicht loslassen. Man darf gespannt sein – nicht zuletzt auf die Wahl der Sitzmöbel.


Text: christian-helten - Foto: dpa

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