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Mäandern: Auf die Plätze, fertig, los

Text: betany

Mäandern, mäandern, MÄANDERND, mäandernd, mäandernd, mäandernd…



Leise, mal laut, ganz leise, immer leiser. Ein Wort das man genießen muss. Was bedeutet es? Der Duden gibt nur wenig Aufschluss darüber, sagt, dass es heißt in Mäandern verlaufen oder mit Mäandern verziert. Mäandern kann entweder ein in Schlangenlinien verlaufender Fluss sein oder ein geschlängeltes Ornamentband.



Ein Fluss kann wild mäandern. Er gurgelt mal in die eine mal in die andere Richtung, mal versiegt sein Wasser in einem Kiesbett, mal zweigt es ab in einen Altwasserarm und kommt schließlich in einem See zur Ruhe. Freilich hat er sein Ziel, aber nur eines – abwärts, weil es so sein muss, das ist die einzige Vorgabe der sich der Fluss unterwirft und das auch nicht willentlich. Sonst suchen sich seine Wasser ihre eigenen Wege, lassen sich treiben, verlaufen sich, versiegen, letztlich.



Ein Fluss der mäandert hat keine Mauern aus Beton. Er kann hin wo er will. Er kann sich ein neues Flussbett schaffen, wenn es sich ergibt. Er hat die Freiheit zu können, nicht zu müssen.



Die Gedanken mäandern um das magische Wort, das seinen Ursprung in einem Fluss in Kleinasien hat. Sie verzweigen sich wie manche, der der mäandernden Flüsse. Leise spreche ich das Wort deutlich aus. Die Blicke gehen in den Himmel. Ein Flugzeug ist gerade gestartet, zielstrebig und geradlinig fliegt es über mir durch den blauen Himmel nach Nord-Westen und entzieht sich meinen Blicken indem es über den Ästen des weitverzweigten Birnenbaums verschwindet. Es hat sein Ziel und lässt sich nicht aufhalten. 



Mäandernd gleiten meine Gedanken zurück und meine Hand streicht über das kühle Gras unter dem schattigen Blätterdach. Sie stößt auf etwas hartes, scheinbar rundes und greift reflexartig danach. Eine rotbackige Birne füllt meine Hand aus. Ich beiße hinein. Die Gedanken mäandern weiter.



Das saftige Obst weckt meine Erinnerung an ein schönes Geräusch, dass sich tief eingegraben hat in meinem sinnlichen Gedächtnis.



Eine gewittrige Nacht vor ein paar Wochen. Blitze erleuchten noch in der Ferne das dunkelst blaue Firmament, die Erde ist nass, von den Bäumen perlen dicke Tropfen. In der Dunkelheit sind nur Umrisse zu erkennen, die Augen sehen Schwarz, die Ohren werden umso aufmerksamer. Kurz nacheinander suchen drei Äpfel den Weg durch das nasse Blätterdach in das feuchte Gras. Sie lösen sich wie in einem Kanon, verursachen ein helles Rascheln im nassen Blattwerk und drei dumpfe Schläge beenden ihr Lied vom freien Fall. Ich lausche noch lange nach. Es gibt keine Zugabe.



Während die Erinnerung an das Erlebnis gerade ausklingt, löst sich eine faustgroße Birne mit einem ähnlichen Rauschen, einem holzigen Schlag gegen einen dicken Ast, der den ganzen Baum zum Fibrieren bringt und einen Tusch aus Blättern auslöst. Die Reise endet in einem dumpfen, dunklen Aufprall. Das knöchelhohe Gras nimmt zusammen mit duftender Zitronenmelisse und klammen Moospolstern die Birne in Empfang.



Meine Füße setzen sich langsam nach einander in das weiche Grün und machen sich auf den Weg um den dicken Stamm, die Birne suchen. Saftig-süß schmeckt sie. Ist das gelebtes mäandern?



Es findet ein jähes Ende als irgendein strebsamer Zeitgenosse ohne jegliches Gespür für Muße seinen Feierabend damit zu zubringen beginnt sein Auto lautstark mit einem Industriestaubsauger zu reinigen. Der Spiegel hat doch Recht in seinem Artikel über den Müßiggänger Oblomow. Mäandern verträgt keine Geräusche jenseits der natürlichen Akustik. Sie mag vorallem keine geschäftigen Nachbarn mit Staubsaugern oder Rasenmähern lauter als ein Apfel ins nasse Gras fallen kann. Sie mag keine Kommunikation zwischen Menschen, die sich schneller bewegt als das Versenden eines Briefes. Es passt einfach nicht mehr in unsere Zeit. Selbst Flüsse dürfen das nicht mehr. Mäandern ist out.



Es ist nur eine Frage der Zeit bis auch der letzte mäandernde Fluss sogenannten Ökostrom produzieren muss. Dann hat es sich ausmäandert, lieber Freund! Vorbei die Tage des rumschlängelns! Effizienz und Kontinuität trifft nun auch dich. Auch Birnen dürfen nicht mehr fallen, wann sie wollen. Druckstellen stören bei der Vermarktung.



Knapp fünf Minuten sind schon vergangen seit das letzte Flugzeug über meinen mäandernden Birnbaum und mich verschwunden ist, wie in einem Bermudadreieck. Ich mache mir schon sorgen um die Wirtschaftlichkeit des Münchner Flughafens und die Sicherheit der 5-Euro-die-Stunde-Jobs am Gepäckband. Endlich bahnt sich wieder ein Flieger seinen Weg von Süden nach Norden. In 30 Minuten landet er in Berlin, vielleicht auch eine halbe Stunde später in Hamburg. Wer schneller am Ziel ist hat gewonnen.



Auf die Plätze, fertig, los!



 

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