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Patriotismus - Gefahr oder Fortschritt?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



jetzt.de: Können wir stolz auf Deutschland sein?
Sören Siegismund-Poschmann (Junge Piraten): Ich weiß nicht, ob es Sinn ergibt, wenn man sagt: Ich bin stolz auf Deutschland. Ich kann doch nur stolz auf das sein, was ich mache und bewege. Und nicht darauf, wo ich geboren wurde, dafür kann ich ja nichts.
Timur Husein (Junge Union): Ich bin auch stolz auf meine Familie und auf das, was meine Eltern erreicht haben. Ich bin Patriot, ich liebe mein Land. Aber man sollte das nicht mit Nationalismus verwechseln. Ich kann sagen, ich bin stolz, Deutscher zu sein.
Immo Fischer (WWF Jugend): Ich bin skeptisch, was das Thema Nationalstolz angeht. Zum einen, weil es dabei immer auch um Ausschluss und Abgrenzung von anderen geht. Andererseits finde ich es aber auch rein logisch betrachtet wenig einleuchtend, auf ein Land oder eine Nation stolz zu sein. Kann ich mir da die Sachen raussuchen, auf die ich stolz sein will, oder muss ich erst mal rechnen, ob mein Land es überhaupt Wert ist? Dann würde ich vielleicht für unsere Demokratie einen Pluspunkt geben, genauso für Goethe. Und für Hitler würde ich vielleicht wieder zwei Punkte abziehen. Bist du auch stolz auf Abschiebegewahrsam, Timur?
Timur Husein: Natürlich nicht, wie kann ich auf eine einzelne Regelung stolz sein. Aber auf das gesamte Land bin ich stolz. In meiner Familie kann ich auch schwarze Schafe haben, trotzdem bin ich auf meine Familie stolz. Und mit dieser Haltung bin ich nicht allein: Insgesamt ist Patriotismus im Kommen.

Beobachtet Ihr anderen das auch?
Kevin Kuhnert (Jungsozialisten): Lange Zeit gab es Mäßigung und Selbstregulierung, nicht aus Überzeugung, sondern nach dem Motto „Wir dürfen nicht“. Mit der Fußball-WM 2006 in Deutschland hat sich das geändert, auch wenn die meisten Menschen, die das da auf der Straße ausleben, vermutlich sagen würden, sie seien Patrioten und keine Nationalisten. Kürzlich wurden jedoch die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung veröffentlicht, nach der das Problem sehr viel ernster ist. Da stehen dann die Faktoren Spaß, Begeisterung und mit anderen Leuten auf der Straße feiern in einer Motivationstabelle mit 13 oder 14 Prozent an letzter Stelle. An erster Stelle steht dagegen die Abgrenzung von Eigengruppe und Fremdgruppe. Wir gegen die anderen. Um sich wirklich freuen zu können, ist eine Abgrenzung notwendig, aus der dann ein Überlegenheitsgefühl entspringt. Das ist nicht meine Form von Fankultur, aber ich möchte natürlich auch nicht all denjenigen, die da mitmischen, Nationalismus unterstellen. Man muss sich nur vor Augen führen, dass diese krasse Diskrepanz zwischen Leuten, die sich sonst für Fußball interessieren und denen, die bei einer EM oder einer WM auf die Straße gehen, auch damit zu tun hat, dass Motivationslagen dahinter sind, die fernab vom Fußball liegen. Da geht es um ganz urtriebige Motivationen.

Also sprechen wir hier von einer Gefahr.
Timur Husein: Das ist keine Gefahr, sondern ein Fortschritt. Patriotismus ist ein Beitrag zur Integration. Zur WM und EM haben die türkischen und arabischen Migranten die größten Deutschlandfahnen getragen und auf den Häusern aufgehängt. Die USA machen es uns vor, da sind alle stolze Amerikaner. Im Gegenteil, ich wurde in Neukölln nach dem Deutschlandspiel gegen die Niederlande drei Mal angemacht, warum ich die Deutschlandfahne trage, aber nur von Deutschen mit süddeutschem Akzent.
Josephine Michalke (solid): Nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen europäischen Ländern erkenne ich einen Rechtsruck, der oft sogar in Pogrome umschlägt. Und unter diesem Gesichtspunkt sollte man auch Massenabschiebungen diskutieren. Vielleicht liegt es an der Krise, dass in Deutschland und anderen Ländern Rassismus und Nationalismus weiter grassieren.
Immo Fischer: Wir haben das Glück, dass sich hier noch keine rechtsradikale Partei formieren und eine relevante Anzahl Wählerstimmen gewinnen konnte. Vielleicht fehlt nur die charismatische Führerfigur, vielleicht wirkt aber auch immer noch dieses Tabu, dass man die nicht wählt.
Kevin Kühnert: Im europäischen Vergleich muss man der FDP ein großes Lob aussprechen, denn es waren zumindest vorgeblich liberale Partien, die zu rechtspopulistischen geworden sind. Ihr habt die Phase mit Möllemann in Ansätzen auch gehabt, konntet das aber hinter euch lassen.
Yvonne Everhartz (Katholische Jugend): Das Entstehen von rechtspopulistischen Parteien liegt an diesem Ingroup-Outgroup. Und dabei geht es auch um die Wahrung von Privilegiertenrechten. Die Leute haben Angst vor dem sozialen Abstieg und sie suchen sich eine Gruppe, von der sie glauben, dass sie ihnen den Privilegiertenstatus wegnimmt. Dieses Problem ist ja auch in Deutschland recht präsent, und viele Menschen sind da schneller als uns das lieb ist.
Lasse Becker (Junge Liberale): Rechtspopulistische Protestwähler werden in Deutschland häufig von den großen Volksparteien aufgesogen. Die Erfolge für rechtsextremistische Parteien sind eher temporäre Ausrutscher. Und das Problem ist bei uns auch wesentlich geringer als in anderen Ländern. Ich finde es einerseits gut, wenn man gerade beim Sport die Nationalmannschaft unverkrampft feiert, aber danach wird doch das Gehirn schnell angeschaltet und man lehnt wirklichen Nationalismus doch klar ab. Man lässt Rassismus in Deutschland aufgrund der Historie einfach auch seltener durchgehen als in anderen Ländern. Und das ist gut so.
Yvonne Everhartz: Es ist problematisch, wenn in Brandenburg die ganzen Clubs dicht gemacht werden, und das einzige Sommerfest für die Dorfjugend organisiert die NPD. Es gibt Videos, in denen die Leute gefragt werden, wie sie es denn auf dem Sommerfest der NPD finden, schließlich wäre die NPD ja rechtsextrem. Und da antworten die dann Dinge wie: Ja, aber das Fest ist doch so schön, und die machen wenigstens was. Manche sagen natürlich auch, dass sie mit der politischen Position übereinstimmen. Aber dass sich Leute einfach über Würstchen und Bier freuen und damit die NPD unterstützen, ist das größte Problem. Gegen den offenen Rassismus gibt es viel Zivilcourage, aber unterschwellig brodelt noch viel mehr. Und das wird eben nicht bekämpft.
Karl Bär: Dass Sarazzin mit der These, die deutsche Unterschicht sei biologisch und genetisch minderwertig, einen Bestsellererfolg gefahren hat, dass er mit der Aussage „Mir hört niemand zu“ wochenlang die größte deutsche Zeitung bespielt hat, das ist schon krass und sollte nicht als geringes Problem runtergespielt werden. Hätten wir ihm das einfach so durchgehen lassen sollen? Das geht nicht. Er hat Thesen abgeliefert, die man nicht einfach so stehen lassen konnte. Es gibt nur ein Kapitel, das sich mit Migration beschäftigt, alle anderen beschäftigen sich mit der Minderwertigkeit der deutschen Unterschicht, mit den Hartz IV-Empfängern. Darin steckt ein so krasser Sozialdarwinismus – und weite Teile der Gesellschaft haben das so empfunden, dass endlich mal einer sagt, wie es ist. Ich glaube, wir haben dieses Potential in Deutschland ganz massiv.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Am Tisch sitzen: Timur Husein, Beisitzer im Bundesvorstand der Jungen Union, Kevin Kühnert, Vositzender der Jungsozialisten in Berlin, Lasse Becker, Vorsitzender der Jungen Liberalen, Karl Bär, Bundessprecher der Grünen Jugend, Josephine Michalke, Bundessprecherin der Linksjugend ['solid], Sören Siegismund-Poschmann, Kapitän der Berliner Jungen Piraten, Yvonne Everhartz, Mitglied des Bundesvorstands des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend, Henriette Labsch,Beisitzerin im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland, Immo Fischer, Pressestelle WWF-Jugend

Wie reagieren wir darauf?
Karl Bär: Zum großen Teil sind die Rassisten ja keine Leute, die rausgehen und jemanden  verkloppen, sondern solche, die das in sich tragen, nicht darüber nachdenken und es dann in bestimmten Momenten rauslassen. Da liegt die Gefahr. Wir setzen uns in unserer politischen Bildungsarbeit immer wieder mit unseren eigenen Vorurteilen und Verstrickungen in Sachen Rassismus und Sexismus auseinander.  Kann sein, dass man mit Workshops nicht wahnsinnig viele Menschen erreicht, aber es ist wichtig, sich die latenten Dinge bewusst zu machen.
Kevin Kühnert: Neben der Zivilcourage, die für mich eine wichtige Rolle spielt, kommt der Bildungspolitik eine Schlüsselfunktion zu. Es muss mehr Politik in die Schule rein, viele Schüler durchlaufen zehn Jahre Schule, ohne mit politischen und gesellschaftlichen Inhalten in Berührung gekommen zu sein. Schulen müssen endlich damit aufhören, Überparteilichkeit mit Unpolitischsein zu verwechseln. Wenn sie eine Podiumsdiskussion machen, laden sie die NPD dazu ein, weil sie glauben, dass sie dadurch das Meinungsspektrum besser abbilden. Es ist unglaublich viel Aufklärungsarbeit für Lehrkräfte gefragt.
Timur Husein: Ich habe kürzlich gelesen, dass Jugendliche Hitler und Honecker nicht auseinanderhalten konnte. Wenn wir das ändern können, sind wir schon mal auf einem guten Weg.
Lasse Becker: Wenn ein Populist auftaucht, dann müssen wir ihn argumentativ stellen und entzaubern.
Immo Fischer: Leider scheint es so zu sein, dass insbesondere von sozialem Abstieg bedrohte Menschen sich von denjenigen abgrenzen wollen, die in der sozialen Rangfolge noch weiter unten stehen. Dadurch kommt es dann zum Beispiel zu der absurden Situation, dass sich Niedriglohnempfänger über vermeintlich schmarotzende Arbeitslose beschweren. Ich denke, man muss etwas gegen die Abstiegsangst unternehmen, die momentan bei uns herrscht.
Josephine Michalke: Noch besser wäre es, soziale Ungerechtigkeit als solche zu bekämpfen.
Immo Fischer: Eine größere Sicherheit ist notwendig, dass man nicht ins Bodenlose stürzt, wenn man beispielsweise den Job verliert. Wenn diese Sicherheit da ist, machen sich die Leute auch weniger Sorgen um ihre soziale Stellung. Das würde die gesellschaftliche Stimmung sicherlich entspannen.

Die ersten drei Folgen des jetzt.de-Sommergesprächs kannst du ebenfalls noch nachlesen. Vergangene Woche diskutierte die Runde über die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern und Gleichberechtigung. Das zweite Gespräch dreht sich um Bürgerbeteiligung und Liquid Feedback, in der ersten Folge ging es um Politikverdrossenheit bei jungen Deutschen.



Text: mark-heywinkel - und Carsten Schrader; Fotos: Elena Wagner; dpa

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