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PUSSY RIOT, GRIMM und MÄRCHEN

Text: HEDunckel





Es scheppert und kracht. Das erste Becken fliegt ins Publikum, während hinten eine Rückkopplung alles zu übertönen scheint. Der Rhythmus ist dröhnend, die Gitarre segelt in einem „Sturm über der Nordsee“ ... Titel einer Klang-Collage der Piraten-Rock-Band „Stoertebaker“. Wir schreiben das Jahr 1973 und befinden uns in der Petri-Kirche, lutherische Kathedrale und Hauptkirche, direkt in der City von Hamburg. Wo heute der große Tisch mit den Kerzen steht, gab es im Rahmen einer Konzertreihe experimenteller Musik einen Auftritt von Käpt'n Snappy Stoertebaker, Walter Steffen und mir: Der erste symphonische Punk aller Zeiten. Intellektuelle diskutierten nach dem Auftritt über Bezüge und Perspektiven derartiger Innovationen im Bereich der modernen Musik. Vier Jahre später wird eine ähnliche Performance auf dem Friedrichsplatz in Kassel vorzeitig abgebrochen, weil ein Kaufhausdirektor die Polizei dazu drängt: Die Kunden sind irritiert – unfähig zu kaufen. Er reißt eine offizielle Genehmigung ab. Der Sieg eines Hinterwäldlers. - Eben noch hatte Joseph Beuys die Performance lobend besucht und die offizielle Delegation, eines damals noch hoch kultivierten Afghanistans, hatte unseren improvisierten Beitrag zur documenta6 als wirklich zeitgenössisch und gelungen bewertet.



Wenn jetzt eine Philosophin, eine Informatikerin und eine Sozialarbeiterin in der Christ-Erlöser-Kathedrale eine Punk-Performance präsentieren und dabei eine Diskussion über „ethische Werte“ scheinheilig in den Vordergrund gedrängt wird: Verschwindet damit nicht jedwede Erlösung und sogar Christus selbst aus diesem „Gotteshaus“. Es zeigt sich, wie die kulturelle Unreife von Kirche und Politik sogar hinter der theoretischen Progressivität von Josef Stalin „Über dialektischen und historischen Materialismus“ zurück bleibt: „Also darf man sich nicht auf diejenigen Schichten der Gesellschaft orientieren, die sich nicht mehr entwickeln, auch wenn sie im gegenwärtigen Augenblick die vorherrschende Kraft darstellen, sondern muss sich auf diejenigen Schichten orientieren, die sich entwickeln, die eine Zukunft haben, auch wenn sie im gegenwärtigen Augenblick nicht die vorherrschende Kraft darstellen.“ - Oder für eine ebenso zeitgenössische wie zukunftsweisende Performance sogar ihrer Freiheit beraubt werden. Die Annahme im Stab von Putin, dass ein derartiges Event woanders noch härter bestraft werden würde, zeugt von der Macht der Hinterwäldler in Russland. Wo Eigentum nur durch Obedienz zu sichern ist, macht Geld im Handumdrehen auch Unvermögen zu Vermögen. In einer derartigen Märchenlandschaft steigt der Grimm über Behauptungen, die sich wenig oder gar nicht mit der Wahrheit decken.








Zeigt sich Kultur als geistige Kontamination, sinnt „Der Spiegel“ darüber, ob „die Sache mit Pussy Riot für Putin zu einem riesigen Problem wurde, weil die Angelegenheit vielleicht mehr mit dem Geschlecht der Angeklagten zu tun habe, als mit dem Gewicht des Falls“. Dass der Aufstand der Frauen (also: Pussy Riot) in “Die Weibervolksversammlung”, bereits in einer über zweitausend Jahre alten Komödie von Aristophanes auf die Bühne gebracht wurde, gibt uns einen weiteren Wink bezüglich des (soziologischen) Alters Russlands. Schon Karl Marx, als großer Kenner der Antike, hatte sich von den alten griechischen Theaterstücken inspirieren lassen: “Nun seht, zuvörderst erklär' ich die Äcker für Gemeingut aller, auch Silber und Gold und was alles der einzelne sein nennt!“ Bis hier hielt er mit, doch dann blieb der weitere Text in Frage gestellt: „Wenn also die Güter vereinigt, sind wir es, die Frauen, die euch nähren und pflegen. Wir verwalten und sparen und rechnen, besorgt, nur das Beste von allen zu fördern.” - Doch die damalige “Revolution” entließ ihre Damen als ungestalte Hexen mit vollen Därmen, und der Beschluss „Wenn ein junger Mann ein junges Weib begehrt, da darf er nicht zustoßen, eh er's einer Alten tat.” - hatte sicher schon den Charakter einer unserzeitigen Bild-Demagogie: den “Vornehmen” die Anliegen des “Pöbels” in Kot und Hässlichkeit zu verpacken. Und so ergeht es eben den Frauen in einem noch immer „alten“ Russland: Schon seit Jahrzehnten können auch intelligenteste Akademikerinnen ihr Leben nicht mit dem Kopf verdienen, sondern eher, indem sie ihre „Pussy“ zu Geld machen.








Im Staat hingegen herrschen “Die Ritter”, aus einer anderen Komödie von Aristophanes, und es geht drunter und drüber. Sklaven begrüßen einen Wursthändler: “Du reich gesegneter, jetzt noch ein Nichts und morgen allgewaltig, der erste Mann im stattlichen Athen!” - Fragt er: “Ei, ei, wie soll das zugehn', dass ich zum Helden werd', ein Blutwursthändler?” - “Just eben drum wirst du der Mann des Tags, weil du gemein bist, frech und pöbelhaft.” - “Grad um so besser qualifizierst du dich für Staatsgeschäfte!” - Denn: “Regieren ist kein Ding für Leute von Charakter und Erziehung! Niederträchtig, Unwissend muss man sein!” - “Du machst gerade weiter wie bisher. Du hackst und rührst den Plunder durcheinander, hofierst dem Volk und streichst ihm süßes Wörtchen wie ein Ragout ums Maul; du hast ja, was ein Demagog nur immer braucht: die schönste Brüllstimme, bist ein Lump von Haus aus, Krämer, kurzum, ein ganzer Staatsmann!” - So wird der Wursthändler zum “Wohltäter ... der Menschen, wie noch keiner lebt' auf Erden.” - Wir erkennen in brillanter Evidenz ein Problem, das uns seit über zweitausend Jahren durch unsere Geschichte begleitet, ohne dass wir in diesem Bereich effiziente Fortschritte in Richtung einer Lösung machen konnten.








“Der Göttin ist der Rat, die Tat ist mein.” - hieß es damals, als in Athen die alten Sitten abgeschafft wurden und das Geld die Macht übernahm. Und: Das Geld war in den Händen von Männern, die seither meinen, sich damit alles kaufen zu können. - In Tschebokáry aber steht eine riesige weibliche Figur, die mit ihren ausgebreiteten Armen dem Heiland oberhalb von Rio de Janeiro ähnelt. Sie verkörpert Mütterchen Russland. Die archaische Heimat des russischen Volkes, wo die Bábuschka seit jeher besorgt war, das Beste von allen zu fördern; während die „Herren“ volltrunken ihre Ländereien verspielten. Dort kommentiert eine russische Frau ohne Grimm: „Die Welt entwickelt sich doch zunehmend in die Richtung … , dass Männer überflüssig seien, oder? Sie habe sogar so etwas gelesen, dass die Frauen in Zukunft keine Männer mehr bräuchten, um Kinder zu zeugen. Dann sei der Mann vielleicht überhaupt nur noch ein Luxus der Natur, lacht sie, damit das Leben nicht so eintönig sei. Aber im Grunde werde er dann schon nicht mehr gebraucht, oder?“ (Buch-Empfehlung: „Kartoffeln haben wir immer“ - Kai Ehlers / Horlemann 2010)



In Russland hat der Mann von heute anscheinend vergessen sich als solcher zu emanzipieren. In anderen Ländern bestimmen Banken, kommerzielle Medien und die Rüstungsindustrie welche Frauen in einer emanzipierten Rolle für ihre Interessen nützlich sind. Es geht aber weniger um das jeweilige Geschlecht. Es geht definitiv darum, auf DEN gravierenden Fehler aufmerksam zu machen, der, bei der Aufstellung von Anleitungen zu expedientellen Lösungen von Aufgaben allgemeiner Bedeutung, immer häufiger Zeugnis eines Mangels an operativer Stringenz durch sehr konkrete, perzipientelle Defizite hinterlassen hat. Es ist die seit der Aufklärung um sich greifende Fehlprogrammierung okkasionellen, intentionalen oder gar okkulten Charakters, durch die unsere situative Verfahrenheit bei der Lenkung jedweder von uns betriebenen Systeme ihre Ursprünge fand – und die weltweit noch immer als „modern“ verkauft werden soll. Daher treffen wir seit der Untergangs-Phase der Antike auf die Insistenz in eine Dialektik: Verstanden als ein homöostatischer Prozess permanenter Kommunikation. Denn: Zeigt sich nicht erst in seiner reflexiven Art das Selbst als bewusster Organismus? Welcher nur in sofern ist, als er von seiner eigenen Welt in die Welt von anderen übergehen kann? Sich somit also in diesem offenen Bereich, sowohl in seinen eigenen Dimensionen, als auch in denen von Anderen zu verstehen und zu realisieren lernt? - Und: Ich glaube es wäre ein Märchen, wenn das ausgerechnet für einzelne Männer oder ganze Nationalstaaten nicht gelten sollte …



Holger E. Dunckel






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