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Vergangene Woche erschien im Online-Magazin Rookie Mag ein lesenswertes Manifest: Eating. In dem Artikel wird beschrieben, wie eine Frau in einem Coffeeshop sich von der Bedienung quasi die Erlaubnis dazu holen wollte, zu ihrem Kaffee noch kalorienschweren Süßkram aus der Theke zu bestellen. Die Autorin machen solche Frauen, die sich schuldig fühlen, wenn sie etwas nicht komplett fett- und zuckerbefreites essen, geradezu wahnsinnig.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Es gibt viele solcher Mädchen und Frauen. Wenn ich zum Beispiel mittags mit einer noch sehr jungen Kollegin in die Kantine Essen gehe, rechtfertigt sie sich ständig dafür, dass sie ihren Teller relativ voll geladen hat. Sie habe noch nicht gefrühstückt, entschuldigt sie sich dann für ihre große Portion. Mir persönlich ist es völlig egal, wie viel jemand zu welcher Mahlzeit und aus welchen Gründen zu sich nimmt, wie die Tagesenergiebilanz am Ende ausfällt und ob dabei die heiligen fünf Portionen Obst und Gemüse abgedeckt wurden. Mich nerven diese dauernden Rechtfertigungen daher, aber gleichzeitig erkenne ich mich darin wieder: Denn sehr oft werde ich selbst mit Bemerkungen zu meinem Essverhalten in den Entschuldigungsmodus gedrängt und zu Erklärungen genötigt. Eigentlich kein Wunder, dass manches Mädchen und manche Frau da im vorauseilenden Reflex bereits die Antwort auf die noch ungestellte Frage gibt.

Denn ist man eine Frau, dann steht das eigene Essverhalten unter Dauerbeobachtung. Jeder fühlt sich berechtigt, die Nahrungsaufnahme zu kommentieren und zu bewerten. Dabei geht es nur manchmal darum, ob mein Essen wohl lecker schmeckt oder ob es gesund ist. Sondern vor allem um Portionsgrößen und Kaloriengehalt. Es geht um die Frage: Macht mich mein Essen dicker oder dünner? Noch ein Kantinenbeispiel: Finde ich die angebotenen Gerichte nicht so ansprechend und lade mir deshalb nur ein paar Beilagen von der Gemüsebar auf mein Tablett, dann kann ich mich darauf verlassen, dass mich am Tisch mein Gegenüber, Menge und Kaloriendichte meines Essens taxierend, fragen wird, ob ich gerade eine Diät mache. Genau das unterstellt mir auch ein Freund automatisch, wenn wir uns auf einen Kaffee treffen – und ich im Gegensatz zu ihm keinen Kuchen dazu bestelle. Dass ich gerade einfach keinen Appetit auf Kuchen habe, kommt ihm erstmal nicht in den Sinn. Kaufe ich mir dagegen nachmittags in der Verlagscafeteria einen Muffin, kommentiert der mir völlig fremde Kollege, der in der Schlange hinter mir steht, meine Wahl mit einem wohl nett gemeinten: Na, Sie können sich’s ja leisten.

Ich bin weder zu dünn noch zu dick und falle auch nicht mit ständigem Gerede über Diäten auf. Dass sehr viele Menschen meinen, mich dennoch auf die figürlich zu erwartenden Konsequenzen meiner Ernährung ungefragt hinweisen zu müssen, empfinde ich als respektlos. Und es verunsichert mich: Nur ungern nehme ich deshalb den besagten Beilagenteller von der Gemüsebar. Und wenn ich mal abends auf der Couch meine Lieblingsserie schaue und dabei einen ganzen Becher Ben & Jerry’s auslöffele, dann bin ich froh, dass niemand dabei ist, der meine Maßlosigkeit verurteilt. Das Schlimmste aber ist: Weil andere Menschen mein Essen fast nur durch die Kalorienbrille betrachten, habe ich mir diese Sicht inzwischen selbst angeeignet: Eine Tafel Vollmilch-Nuss? Ungefähr 550 Kalorien. Ein großer Teller Spaghetti mit Tomatensauce? Kommt in etwa aufs Gleiche raus. Es erschreckt mich oft selbst, dass ich solche Werte nicht nachschlagen muss.

Es gibt viele, sehr verschiedene Gründe für Essstörungen und ich möchte da bestimmt nichts vereinfachen. Aber dass Mädchen und Frauen besonders oft ein problematisches Essverhalten entwickeln, das liegt, glaube ich, auch daran, dass ihre Umwelt sie ständig dazu erzieht, beim Essen immer auch den Figureffekt wahrzunehmen.

Lasst mich doch einfach in Ruhe essen, möchte ich manchmal all diesen Erziehern entgegnen. Und sollte ich vielleicht auch. Denn ich glaube, sie sind sich gar nicht bewusst, was sie mit ihren Kommentaren auslösen.


Text: juliane-frisse - Bild: jameek ƒ/photocase.com

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