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Jungs, schämt ihr euch eigentlich nicht?

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Die Mädchenfrage:

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Eigentlich dachte ich, ich müsste noch ein paar Jahrzehnte älter werden, bevor mir dieser Satz über die Lippen gehen würde. Aber dann waren da diese Typen.
Genauer gesagt waren es drei. Drei Männer auf einer Landstraßenfahrt von ungefähr 40 Kilometern durchs aller-anmutigste bayerische Oberland. Eine Straße, die trotz hoher Unfallegefahr noch immer von einer kurvigen Eichenallee überschattet ist. Es hätte also eine überaus idyllische Fahrt werden können, wenn sich mir nicht eben drei Mal das selbe Schauspiel geboten hätte: Ein parkender Mittelklasse-Wagen mit geöffneter Fahrertür, eine auf dem Beifahrersitz geparkte Ehefrau und drei Meter daneben ein völlig ungenierter Mittelklasse-Mann mit seinem Pimmel in der Hand, sich an eine der armen Eichen erleichternd.
 
Ich meine – ich verstehe ja den Harndrang an sich und kenne ihn aus persönlicher Erfahrung durchaus. Aber ich kann es trotz langjähriger Erfahrung mit unzähligen „Wildbieslern“, wie sie in Bayern verniedlichend genannt werden, immer noch nicht verstehen, wie Männer es wagen können, ihren Pimmel in Sichtweite der ganzen Welt ungeniert auszupacken und es dann einfach laufen zu lassen.
 
Natürlich: Auch wir Mädchen pinkeln in Notsituationen in die freie Wildbahn. Aber wir wahren dabei immer einen Diskretionsabstand, ziehen uns in den Wald zurück oder zumindest in irgendwelches Gebüsch. Und wenn wir dabei beobachtet werden, schämen wir uns.
Bei den drei Typen dagegen – nichts, keine Regung. Wenn überhaupt, dann war da so eine Art diskret-stolzes Pimmel-Gewedel auszumachen. Wobei – vielleicht habe ich mir das auch eingebildet.
 
Und es sind ja nicht nur mittelalterliche Mittelklassemänner – auch gleichaltrige Jungs finden nichts dabei, sich auf Festivals zwei Meter neben uns hinzustellen und sich zu erleichtern. Schon manchmal habe ich sagenhafte Erzählungen gehört, an welchen prominenten Plätzen sich Jungs schon mal erleichtert haben und wo sie planen,  es in ihrem Leben einmal zu tun.
 
Ich will keineswegs die Spaßverderberin mimen, aber trotzdem muss ich noch einmal fragen: Schämt ihr euch eigentlich echt nicht? Wirklich kein bisschen?
 




Die Jungsantwort:  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Als die Frage in der Redaktionskonferenz erörtert wurde, war die erste Reaktion der Jungs spontan fast gleich: Großes Because-We-Can!- Achselzucken. Ich weiß nicht, wie weit ich mich nun hier von dieser Grundhaltung distanzieren soll und darf, vielleicht nur so weit, wie ein Mann pinkeln kann (also zwei Meter). Wer von uns letztlich wie wild pinkelt ist tatsächlich eine Frage des individuellen Schamgefühls. Denn dass man grundsätzlich an Bäume, Zäune und Mauern pissen kann wie ein Hund, stand nicht nur schon im „Woyzek“, das gehört einfach zu den Dingen die als Mann möglich sind, genauso wie Grölen, Schlägern, Schnarchen.
Als Kinder werden wir von den Müttern an den nächsten Baum gestellt, als kleine Jungs pinkeln wir kichernd vom Sprungbrett und später, in einem Alter in dem alle anderen kindischen Zugeständnisse langsam verschwinden, bleibt das Wildpinkeln irgendwie ein Akt anarchischer Freiheit und Selbstverständlichkeit, gegen die niemand was haben kann, so unter Brummi-Fahrern, Suffköppen und anderen Alltagspunks. Und dann gibt es ja in jeder Jungsclique auch immer einen, der eine fürchterlich kleine Blase hat und es sich im Laufe der vielen in Not verbrachten Abende angewöhnt hat, sich sehr niedrigschwellig zu entleeren (und das ist durchaus wörtlich gemeint). Vor diesen ad-hoc-Pinklern, denen es mit zunehmender Alkohollockerung schon reicht, nicht ins sondern direkt neben das Bushäuschen zu schiffen oder zwischen zwei parkende Autos, sollte man nicht auf die gesamte Männerwelt schließen. Ich kenne viel mehr Jungs, mich eingeschlossen, die das Pinkeln jenseits der vorgesehenen Örtlichkeiten so gut wie möglich vermeiden und es nur ungern dazu kommen lassen – und dann einen nahezu ebenso großen Aufwand mit der Baum- / Buschsuche betreiben, wie ihr.

Was man da so an leichtfertigem Gestruller an der Landstraße sieht ist auch für uns kein schöner Anblick - Menschen bei der aktiven Notdurft, das sieht niemand gerne. Ich kann nicht genau erklären, warum es diesen Straßenpissern nichts ausmacht, ich vermute entweder, es ist jahrzehntelange Proll-Stammtisch-Waldarbeiter-Abhärtung oder sie denken irgendwie, man würde gar nicht merken, was sie da tun. Den von dir so dezidiert angesprochenen "Pimmel" sehen sie in diesem Moment bestimmt als völlig entsexualisiertes Werkzeug zur Entwässerung, harmlos wie eine Badezimmerarmatur. Ich verstehe aber, dass er für eine beobachtende Frau nie diesen reinen Körperteil-Charakter haben kann, ebensowenig, wie wir eine pinkelnde Frau einfach nur als Gießkanne sehen würden. Aber tatsächlich kommt den wilden Vielpieslern ihr Treiben irgendwann so normal vor wie Schnürsenkelbinden. Vielleicht ist es ihnen auch einfach egal, was andere denken, aber dann sollten wir sie auch nicht mit Aufmerksamkeit ehren.

Diese Typen sind, wie gesagt, doch hoffentlich die Ausnahme und um endlich eine direkte Antwort zu geben: Normalerweise schämen wir uns schon, wenn jemand uns beim Pinkeln direkt ansieht oder sogar darauf anspricht, eben auch wegen dem "Pimmel". Da ändert auch die Existenz von Urinalen nichts, in denen wir uns ja angewöhnt haben, gleichzeitig und nebeneinander das zu tun, was ihr immer schön für euch allein tun dürft. Auch da achtet man auf eine zumindest scheinbare Wahrung der Intimsphäre aller Beteiligten. Ich war mal auf einem kleinen Boot, ohne Toilette und der Wellengang verhinderte das über Bord pinkeln – es gab also unter uns Leichtmatrosen ein ziemlich anstrengendes, schamvolles Herumreichen des Schöpfkanisters und allen war unwohl und zwar nicht wegen des Wellengangs. Also, wir kennen diesbezügliche Scham durchaus und ich würde sogar sagen, eine Frauenrunde wäre in der gleichen Situation irgendwie cooler damit umgegangen.

 Allerdings, das will ich an dieser Stelle nicht verhehlen, ist es auch ziemlich schön, mal einfach und geradeaus an einen Baum zu pissen. Also, wenn er einsam und uneinsehbar liegt. Es ist dann schon kurz so, als ob die Evolution einem zuzwinkern würde und sagen: Siehste, so haben das die Neandertaler auch schon gemacht.

fabian-fuchs

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