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"Das waren Wahlen der Angst"

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Philip Rizk, 29, arbeitet als Journalist, Blogger und Filmemacher in Kairo. Er hat eine deutsche Mutter und einen ägyptischen Vater. Nachdem er in Deutschland und den USA studiert hat, lebt er seit 2007 wieder in Kairo. Im Februar 2009 ist er von der ägyptischen Staatssicherheit verhaftet und vier Tage lang festgehalten worden. Auf seinem Blog "Tabula Gaza" und auf Twitter beschäftigt er sich mit dem Gaza-Konflikt und berichtet über die aktuellen Ereignisse in Kairo.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Blogger und Filmemacher Philip Rizk

jetzt.de: Philip, die ganze Welt hat auf die Wahlen in Ägypten geschaut. Warst du wählen?
Philip Rizk: Nein.
  

Wieso nicht?
Die Umstände haben nicht gestimmt. Genauso wie während der vergangenen 30 Jahre leben wir unter einer Militärbesatzung. Das heißt, wer auch immer vom Volk gewählt wird, muss unter der Kontrolle der Militärjunta regieren, sich mit den Generälen einig sein, Kompromisse finden - und vor allem die Bevölkerung immer nur als zweitrangig ansehen.
  

Wie hast du die Wahlen verfolgt?
Ich lese die Nachrichten auf Twitter. Meine Freunde sind meine Redakteure, weil ich den Medien nicht traue. Aber ich habe mich wenig für die Wahlen interessiert. Beide Runden habe ich boykottiert. Während der Wahlergebnisse war ich in einem Stadtviertel im Süden von Kairo und habe an einem neuen Film gearbeitet.

Auf deinem Blog hast du vor der Wahl berichtet, nicht aber über den Ausgang der Wahl. Warum?
Wir leben hier immer noch eine Revolution - Wahlen sind die ideale Gelegenheit, diese Revolution zu bremsen. Jetzt fragen die Leute: Warum weiter demonstrieren, warum für unsere Rechte weiterkämpfen, warum für Gerechtigkeit gegenüber den Räubern in der Regierung und den Mördern innerhalb der Polizei kämpfen, wenn wir einen neuen Präsidenten haben, der alles ändern könnte? Seit wir Mubarak gestürzt haben, versuchen alle möglichen Parteien sich als Revolutionäre darzustellen. Die Muslimbrüder sind eine dieser Parteien und leider glauben ihnen viele Leute. Darüber bin ich auch gar nicht überrascht. Jahrelang hat das Mubarak-Regime sie unterdrückt, ihre Mitglieder eingesperrt und gefoltert. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie wirklich eine Änderung im Land bewirken. Am Ende stellen sie genauso eine elitäre ausbeuterische Macht dar wie Mubaraks Regime.     

Auf dem Tahrir-Platz haben Tausende den Sieg Mursis gefeiert, bei seiner Vereidigung hat der zukünftige Präsident viele Versprechungen gemacht. Wie empfindest du die Stimmung nach der Wahl und Vereidigung? 
Viele Leute freuen sich über das Ergebnis. Ihre größte Angst war, dass Schafik gewinnen würde. Schafik hat in den Wahlen das alte Regime Mubaraks repräsentiert. Viele andere haben jetzt nach den Wahlen Angst. Sie haben Angst vor der Religion der Muslimbrüder. Diese Wahlen waren Wahlen der Angst. Die eigentliche Frage war, vor welchem Kandidat die Mehrheit mehr Angst hatte. Das zeigt, dass die Wahlen nicht die Lösung der Anforderungen der Revolution waren. Revolutionen passieren auf den Straßen und nicht in der Wahlkabine.  

Aber Schafik steht als ehemaliger Mubarak-Gefolgsmann für das alte Regime, der Wahlsieg Mursis klingt darum nach einer guten Nachricht - oder ist das zu einfach gedacht?
Das ist viel zu einfach gedacht. Die Wahlen fanden unter einer Militärbesatzung statt. Wer auch immer gewonnen hätte, hätte mit dem Militärrat verhandeln müssen. Nicht Mursi, sondern die wahren Leiter der Muslimbrüder haben vor den Wahlen mit dem Militärrat verhandelt und genau festgesetzt, wie sie die Macht teilen. Beide Parteien brauchen den jeweils anderen. Mit Schafik an der Macht wären die Demonstrationen wahrscheinlich viel stärker weitergegangen und genau das will der Militärrat vermeiden. 

Mursi hat bei seiner Ansprache den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz gedankt. Du warst einer von ihnen, empfindest du seinen Wahlsieg auch als deinen Sieg? 
Nein, Mursis Sieg ist eine Niederlage für die Revolution, weil zu viele Leute nun Hoffnung in diesen Kandidaten legen. Anderseits ist es ein Sieg, dass wir - die Straße - nun die Muslimbrüder bald aus dem Weg geschafft haben, sobald die Leute merken, dass Probleme nicht durch einen neuen Präsidenten gelöst werden. Die Politik der Muslimbrüder ist genauso kapitalistisch, genauso neoliberal, genauso korrupt und genauso elitär wie die ihrer Vorgänger. Das werden viele Leute leider erst hinterher lernen.  

Du glaubst also nicht, dass Mursi Ägypten endgültig vom alten System des gestürzten Machthabers Mubarak befreien kann.
Ich glaube, die Muslimbrüder benutzen Religion nur als Strategie, um ihre Popularität zu stärken. Eigentlich sind sie eine rechte Partei, nicht so sehr anders als die CDU, sie müssen ihren Unterstützern eine bestimmte Vorstellung anbieten.    
 
Wirst du weiter auf dem Tahrir-Platz demonstrieren?
Die Revolution hat nie nur auf dem Tahrir-Platz existiert. Der Platz war der Hauptpunkt, um der Regierung und dann dem Militärrat Druck zu machen. Die Revolution ist überall. Ähnlich wie auch in Argentinien 2001 und 2003 und generell wie bei den sozialen Bewegungen in Südamerika sind diese Aufstände ohne Führung und nicht zentralisiert. Sie passieren auf den Straßen aber auch in Universitäten, Schulen und in Fabriken. Jetzt muss ich die Energie wieder finden, mit dem weiterzumachen, was wir auch schon vor der Revolution erreichen wollten: Opposition zu schaffen. Im Moment ist es schwierig zu demonstrieren, weil zu viele Leute Mursi eine Chance geben wollen. Aber nur durch Demonstrationen hat sich hier etwas ändern können. Wir müssen den Impuls zu protestieren wieder aufbauen. Änderung kommt nur von unten.    

Du wurdest unter Mubarak verhaftet. Hast Du vor den Unruhen je mit einer Nach-Mubarak-Zeit gerechnet?
So schnell nicht. Aber jeder Herrscher hat sein Ende, oder?  

Ist der neue Präsident ein Grund für dich, in Ägypten zu bleiben oder wieder nach Deutschland zurückzukehren?
Der letzte Präsident war kein Grund für mich, Ägypten zu verlassen, dann wird dieser es auch nicht sein. Nach Deutschland will ich nicht ziehen. Deutschland ist mir zu kapitalistisch. So gemütlich zu leben ist langweilig.

Text: kathrin-hollmer - Foto: privat

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