Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Ein Hoch auf die leisen Töne

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

„Danke, das ist so berührend“ kommentiert ein Zuschauer unter dem Video des TED-Talks „Die Kraft der Introvertierten“ von Susan Cain. „Ich habe das Gefühl, als ob ich schon sehr lange auf diesen Vortrag gewartet hätte“, meint ein anderer. „Jetzt verstehe ich, dass mein Hang zu Hause zu bleiben, statt die Wochenenden draußen mit Freunden abzuhängen, und die Zeit mit Lesen zu verbringen, wirklich meinem introvertierten Wesen entspricht.

Zwei Millionen Menschen haben den Vortrag mittlerweile angesehen. Seit März steht er online. Bereits in der ersten Woche hatte er 1,3 Millionen Klicks, ein Rekord, sagen die TED-Organisatoren. Es scheint, als hätte sich die Autorin Cain im lauten Netz mit leisen Tönen durchgesetzt. Mit einem Plädoyer für das Alleinsein und einem Lob der stillen Kreativität.



Eigentlich ist Susan Cain Anwältin an der Wall Street. Sie hat etwas gemacht, was für Introvertierte typisch ist: Sie wollte sich beweisen, dass sie auch laut, mutig und gesellig sein kann, eben so, wie man ankommt in der Welt. Wenn sie heute auf die Zeit an der Wall Street zurückblickt, kommt es ihr vor wie eine Reise in ein anderes Land. Sie hat sich bewusst für dieses stille Leben entschieden. Sieben Jahre lang schrieb sie an ihrem Buch "Quiet. The power of introverts in a World that can't stop talking". Anstoß dazu gaben ursprünglich ihre eigenen Schwierigkeiten an der Uni: Jedes Referat wurde zum Kampf, öffentliches Sprechen - ein Graus. Irgendwann stellte sie fest, dass es nicht nur ihr so ging. Viele Introvertierte leben das Leben von Extrovertierten - mit all ihren Anstrengungen. Ihnen wollte sie helfen, ihren "Way of Life" zu finden und ihn auch zu leben. 

Westliche Gesellschaften hätten schon immer die Macher den Nachdenklichen vorgezogen, erklärt die Harvard-Absolventin. Lediglich die Vorstellung, was ein Macher ist, habe sich verändert. Wurde Abraham Lincoln noch für seine Bescheidenheit gelobt, so zählt im 20. Jahrhundert plötzlich Charisma. Die Menschen gaben die Landwirtschaft auf, zogen in die großen Städte, lebten von ihrem eigenen Business. Es galt, sich in einem neuen Umfeld zu beweisen, sich durchzusetzen, sich selbst zu verkaufen.

Daran habe sich bis heute nichts geändert, kritisiert Cain. Und das, obwohl viele Forschungsergebnisse zeigen, dass jemand, der gut reden kann, nicht zwangsläufig auch die besten Ideen hat. Ohne Steve Wozniak etwa hätte Apple seine Erfolgsgeschichte nicht so schreiben können, meint sie. Erfand doch Wozniak und nicht Steve Jobs den ersten Apple-Computer im stillen Kämmerlein. Ein Hoch auf die Nerds also? Nein, so will Cain ihr Plädoyer für die Stillen nicht verstanden wissen. Vielmehr geht es ihr um einen Platz für die Introvertierten in dieser lauten Welt. Immerhin ist laut Statistiken ein Drittel bis die Hälfte aller Menschen introvertiert. Der Wert und die Bedürfnisse der Introvertierten werden trotzdem oft übersehen, findet Cain.

Der Trend geht sogar in die andere Richtung: Großraumbüros, Tischgruppen schon in der Grundschule. Matheaufgaben werden im Team gelöst und Aufsätze gemeinsam geschrieben. Übersehen wird meist, dass sich dort oft der Lauteste durchsetzt. „Dabei ist Alleinsein häufig eine wichtige Zutat für Kreativität“, sagt Cain. Darwin etwa sei viel lieber spazieren gegangen als zu Dinner-Parties. Und nicht umsonst seien Moses, Jesus, Buddha und Mohammed in die Wildnis gezogen, auf der Suche nach Erleuchtung.   Fordert sie also den Rückzug in die Prärie, den ultimativen Ideen zuliebe? Nein, meint sie und lacht. Das sei freilich zu viel verlangt.

Aber ein bisschen mehr Verständnis von den Extrovertierten, das wünscht sie sich schon. Mehr als sie damals als Neunjährige im Ferienlager bekam. Sie reist mit einem Koffer voll Büchern an. Dort angekommen, wird ihr Traum bald enttäuscht. Statt im Nachthemd auf dem Bett zu lesen, soll sie „rowdie“ sein, also rauflustig. Als sie sich mit ihren Büchern zurückzieht, kommt die Leiterin mit einem besorgten Gesicht auf sie zu. „Ihr müsst doch eine Gemeinschaft sein“, meint sie.

Auch der 15-jährige Charlie gilt als Außenseiter. Wallflower – Mauerblümchen – tauft ihn sein späterer Kumpel Patrick. Er und die wunderschöne Sam sind es, die Charlie aus seiner sozialen Isolation herausholen. Denn seit sich sein bester und einziger Freund umgebracht hat, bringt der Teenager seine Nachmittage und Wochenenden hauptsächlich mit Büchern, Mixtapes und Briefen an einen imaginären Freund zu.

Charlie ist die Hauptfigur des Coming-of-Age-Romans „The perks of being a wallflower“ (dt.: „Vielleicht lieber morgen“). Mitte September kommt die Verfilmung mit Logan Lerman („Die drei Musketiere“) und Harry-Potter-Star Emma Watson ins Kino. Schon jetzt wird der Film über den modernen Salinger im Netz gehypt. „Thanks Chbosky, you started my social life“, dankt ein Leser dem Autor Stephen Chbosky auf Facebook. Und: „Dieses Buch hat mein Leben verändert“. „Ich kann es kaum mehr erwarten“ heißt es auf Twitter. Auf weit über 300.000 „Gefällt mir“- Daumen kommt das Buch, der Film hat bereits jetzt rund 45.000 Fans.

Vielleicht hängt die Euphorie auch ein bisschen mit dem Skandal um das Buch zusammen. Lange Zeit stand der moderne Salinger wegen seiner deutlichen Sprache, wegen freizügigen Sex- und Drogendarstellungen in der Kritik. Die American Library Association setzte das Buch 2009 auf die Liste der „challenged books“ und legte damit eine jugendfreundliche Abänderung nahe. Vielleicht liegt der Erfolg von Buch und Film aber auch am Inhalt, vielleicht berührt dieser Stoff die Leute einfach. Charlie ist genau der stille Typ, den Susan Cain in ihrem Vortrag beschreibt. Er liest und schreibt und macht sich Gedanken. Wahrscheinlich wäre ihm Gruppenarbeit ein Graus.

Charlie ist still und hat doch etwas zu sagen. Und eines hat Charlie vielen Introvertierten voraus: Er hat es geschafft, nicht allein im stillen Kämmerlein zu denken. Sondern er teilt seine Gedanken, beispielsweise mit seiner Schwester. Und die kann dann mit ihrem Musikwissen prompt ihren Freund beeindrucken.

Darum geht es Susan Cain. Neben dem Wunsch nach ein bisschen Verständnis und Raum zur Entfaltung seitens der Extrovertierten richtet sie eine Bitte an die Stillen dieser Welt: Ja, sie könne verstehen, dass man das, was man mit sich herumtrage, erst mal schützen möchte. Und trotzdem hofft sie, dass die Stillen das, was sie in ihrem Koffer haben, doch gelegentlich auch zeigen. „Denn die Welt braucht Euch und eure Ideen.“



Text: veronika-wawatschek - Bild:screenshot

  • teilen
  • schließen