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Kommt da noch was?

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Christian Wulff will man natürlich auch nicht sein. Schon mal sowieso nicht, weil man ja weiß, wie das geendet hat. Unschön. Aber selbst wenn es besser gelaufen wäre: Jetzt steht er da, ist selbst für einen Frührentner noch sehr jung, und es gibt nichts, was er noch werden kann. Zumindest dann nicht, wenn man „werden“ so versteht wie in der Frage: Was willst du mal werden, Christian, wenn du älter bist? Er ist längst über den Berg. Von jetzt an geht es nur noch bergab. Von außen betrachtet. Es sollte ja anders sein. Es sollte so sein, dass man im ersten Drittel seines Lebens etwas wird, dann im zweiten Drittel darin sehr, sehr, sehr gut wird und im letzten dann seine Ruhe hat. Oder so ähnlich. So war es doch immer. Christian Wulff bricht ja mitten im zweiten Drittel ab und war, von außen betrachtet, dann auch nicht so gut – wenn man alles einrechnet –, und jetzt hat er Ruhe, weil er nicht mehr werden kann. Alles irgendwie falsch.

Das ist anders, wenn man jung ist. Wenn man erst anfängt zu arbeiten. Dann liegt noch alles vor einem. Da kommt noch so viel! Schließlich steigt man auf, wenn man gut ist. Man steigt sogar auf, wenn man nicht besonders gut ist, aber schon lange dabei. Oder, mal ehrlich, wie sind diese ganzen Typen sonst an ihre Topjobs gekommen? Es kommt immer wieder Neues. Also nicht ganz Neues, aber so viel Neues, dass es spannend bleibt. Oder? Es kommt doch … da muss doch … ich meine, wenn man seinen ersten echten Job angenommen hat, dann ist das ja nur der erste von ganz vielen. Ein Start. Da muss ja noch was kommen. Das kann es ja noch nicht gewesen sein.

Der Schritt ist größer, als er zunächst wirkt. Weil die Schritte danach kleiner werden. Bis hierhin war jede Veränderung quasi binär: Schule – keine Schule mehr. Kein Führerschein – Führerschein. In der Ausbildung – ausgebildet. Kein eigenes Geld – eigenes Geld. Eigene Wohnung. Eigenes Auto. Eigenes alles. Der komplette Aggregatzustand des Lebens hat sich jedes Mal verändert, von einem in den nächsten. Es war nicht alles anders, aber was anders war, war entscheidend anders. Vom ersten Job an ist das anders: Von nun an verändert sich das Leben in diesem einen, wichtigen Feld nur noch graduell. Da kommt noch was, aber manchmal kommt es, ohne dass man wirklich eine Veränderung bemerkt. Und was viel wichtiger ist: Bisher war fast jede Veränderung eine, die man sich gewünscht hat. Man hat darauf hingearbeitet – auf den Schulabschluss, auf den Uni-Abschluss, auf den Job. Der Grund, Dinge zu tun, war, irgendwann etwas anderes tun zu können. Und nun ist man da. Man macht es jetzt. Aber wie immer, wenn man irgendwo angekommen ist, will man irgendwann weiter. Und muss auch weiter. Bis jetzt.

Man hört dauernd, dass es Menschen heute sowieso schon schwieriger haben, sich für einen Beruf zu entscheiden, weil sie fast alles werden könnten. Die große Auswahl macht es komplizierter. Wer nur zwischen zwei Möglichkeiten wählen muss, der entscheidet sich für das eine und gegen das andere. Wer unendliche Freiheit hat, der entscheidet sich für den einen Schritt und gegen Tausende andere. Der berühmte amerikanische Psychologe Barry Schwartz nennt es the paradox of choice, das Paradox der Wahl, dass Auswahl das Leben so viel anstrengender macht. Wir alle könnten in fast allen Ländern der Welt leben und unzählige Berufe ausüben. Aber dann kommt man irgendwann an und macht genau diese eine Sache an genau diesem einen Ort. Man ist jetzt, was man ist. Elektro­ingenieur oder Grafiker oder Lehrer oder Social-Media-Referent, egal. In Unterhaching oder in Essen oder in Buxtehude. Und bis zur Rente sind es jetzt noch 37 Jahre oder so.

In den meisten Fällen hilft es auch überhaupt nicht, sich die eigenen Eltern anzusehen oder sonst jemanden in einem Alter, in dem man wissen müsste, wie es geht. Im Gegenteil, es ist alarmierend: Wann haben sich denn Eltern zum letzten Mal wirklich geändert? Wann haben sie denn mal einen Schritt gemacht, von dem man sagen würde: Den würde ich auch gern machen? Eltern verändern sich nur insofern, als dass sie merkwürdig werden. Und, ja, wo wir bei Christian Wulff waren: Sein Nachfolger ist mit 72 Jahren noch mal zum Bundespräsidenten aufgestiegen, was sicher ein großer Schritt ist. Aber irgendwie macht Joachim Gauck ja jetzt auch nur das, was er vorher sowieso gemacht hat – über Freiheit reden –, nur jetzt unter einer anderen Dachmarke. Entwicklung wird langsamer. Babys sind jede Woche neue Menschen, Jugendliche wenigstens noch jedes Jahr, junge Erwachsene dann nur noch alle paar Jahre, und Helmut Schmidt ist seit gefühlt etwa 50 Jahren einfach nur noch Helmut Schmidt. Aber das kann keine Antwort auf gar nichts sein: langsamer werden. Da muss noch etwas kommen. Es geht nicht einfach alles immer nur noch so weiter, weil man einen Job hat. Man muss es hinkriegen, dass man gleichzeitig schon etwas ist und trotzdem noch etwas werden kann. Das ist eine Frage des Glücklichwerdens.

Die Sache ist die: Da kommt nichts. Das sieht man: an den Rolling Stones. An Michael Schumacher. Man sieht es an den Sprechern der Tagesschau: Es geht so weiter. Was auch immer noch kommen soll, es kommt nicht von allein. Man müsste es schon selbst machen. Vielleicht ist das der große Unterschied: Die Entwicklung vorher, wenn man ganz jung ist, während man lernt und wächst und sich dauernd alles ändert, die macht man zwar auch selbst, aber auf Bahnen, die es schon gibt, weil es die Ziele schon gibt. Das klingt jetzt kompliziert, heißt aber nur: Es ist klar, dass man irgendeinen Beruf ausüben muss, also muss man einen lernen. Man muss in die Schule. Und so weiter. Aber dann, wenn man etwas „geworden“ ist, dann gibt es keine Ziele mehr außer „Chef werden“ oder so etwas, aber das ist ja oft nur eine Variation von dem, was man macht. Wie bei Joachim Gauck. Man müsste sich selbst ein Ziel setzen wie „Ich möchte ein Mensch werden, der ein guter Chef wäre“ – und dann hoffen, dass es auch derjenige merkt, der die Chefs einstellt. Das ist eben das Ding: Joachim Gauck musste ein Mensch werden, der ein guter Bundespräsident sein könnte, obwohl er nicht wissen konnte, dass er Bundespräsident wird. Eine sinnvolle Karriereplanung ist das nicht. Jetzt kommt ein komplizierter Gedanke: Es heißt genau genommen, man muss an seiner Entwicklung arbeiten und dann mit seiner Entwicklung glücklich und zufrieden sein – unabhängig davon, ob sie einen beruflich weiterbringt oder nicht. Kurz: In dem Moment, in dem man endlich etwas geworden ist, muss man aufhören, sich auf den Job zu konzentrieren und sich um sich selber kümmern. Kann das sein? Das klingt absolut widersinnig.

Ist es aber nicht. Es stimmt genau so. Das ist tatsächlich die Lösung. Denn die geht so: Je höher jemand in einem Unternehmen oder sonst einer Organisation aufsteigt, umso weniger wichtig ist die fachliche Qualifikation. Der Chef von Apple muss kein iPhone zusammenbauen, und der Verteidigungsminister muss nicht gut schießen oder Panzer fahren können. Er muss eigentlich nicht einmal besonders viel wissen. Er muss aber Kompetenzen haben: komplexe Probleme erfassen können und isolieren können, wo welche Entscheidung nötig ist. Diese Entscheidung dann auch treffen können. Begeistern können. Die richtigen Fragen stellen. Solche Dinge. Alles Fähigkeiten, die vor allem in der Persönlichkeit begründet sind, nicht im Fachlichen. Es ist so … einfach?

Christian Wulff müsste man sein. Der ist den ganzen Ärger los, der Ruf ist ohnehin ruiniert, und jetzt kann er sich einmal in Ruhe angucken, was er eigentlich will. Wer er eigentlich sein will. Was er noch lernen möchte. Oder muss. Sicher ist es unangenehm, so darauf gestoßen zu werden, aber man könnte auch sagen: Besser so als gar nicht. Besser, darauf gestoßen zu werden, dass alle Entwicklung aus einem selbst kommt, als den Rest seines Lebens das Gefühl zu haben, dass man schon irgendwie recht hat („Es läuft ja alles“) und trotzdem etwas fehlt. Aus einem selbst, für einen selbst. Vielleicht sagt man es so am besten: Da kommt nichts mehr. Da wartet nichts mehr, dass man bei ihm ankommt. Aber da ist noch was. Man muss es jagen. Man muss es bauen. Man muss es selbst erschaffen. Aber es ist die ganze Zeit da, egal ob man Bundespräsident ist, Frührentner in Großburgwedel, Bürokaufmann oder Praktikant in einer Drei-Mann-Werbeagentur mit nur einem einzigen Kunden. Man selbst müsste man sein.

Auf der nächsten Seite: Protokolle aus verschiedenen Berufsfeldern und was da noch kommt



Mirko Heyne, Uhrmacher, entwickelt Uhrwerke für Nomos Glashütte.
„Eigentlich wollte ich Cellist werden. Ich habe in meiner Jugend sehr viel gespielt, das ist aus meiner Familie heraus gewachsen. Aber Uhren haben mich schon in der Werkstatt meines Großvaters fasziniert - und letztlich habe ich mich für sie entschieden und bin Uhrmacher geworden. Heute entwickle ich Uhrwerke. Das ist ein technischer Beruf, meistens konstruiere ich am Computer, fertige die Prototypen mancher Teile aber noch ganz handwerklich selbst, weil das schneller geht. Wenn man dann ein Uhrwerk zusammensetzt und es zum ersten Mal tickt, ist das ein großartiger Moment. Das ist etwas Besonderes. Aber ich mag eigentlich die meisten Momente in meinem Beruf.“  

Milena Pantelouris ist Buchhändlerin in Berlin.
„Was ich ganz komisch finde, ist, dass man nach einiger Zeit das Gefühl hat, man kennt jetzt alle Kunden, die reinkommen. Da kommen manchmal ganz neue, aber ganz oft kann man die in einer Sekunde richtig einschätzen. So als gäbe es nur ein paar Sorten Kunden. Manchmal wird man dabei aber auch echt überrascht. Manchmal sogar positiv. Wahrscheinlich muss man inzwischen froh sein über jeden, der seine Bücher nicht alle im Internet kauft. Oder überhaupt Bücher kauft, denn Buchhändler verkaufen ja inzwischen alles Mögliche. Wir beantworten nicht mehr Fragen zum Inhalt von Büchern, sondern zur Funktion von E-Readern. Trotzdem mag ich meinen Job natürlich. Ich wünschte mir, dass da noch etwas kommt. Denn es kann ja auch sein, dass es ihn bald einfach nicht mehr gibt.“  

Carl Brandt ist Werbetexter bei der Agentur Philipp und Keuntje.
„Klar kommt da noch was. Da kommt noch ganz viel. Da bin ich selbstbewusst. Aber solange es läuft, ist es für mich gar nicht so wichtig, drüber nachzudenken, was die Zukunft im Detail bringt. Die Anfangszeit in der Agentur war schon ne toughe Umstellung: Kreativität wurde auf einmal zur messbaren Größe, die dem Kunden abgerechnet wird. Wenn man sich an den Schreibtisch setzt und die Uhr tickt, dann muss auch ein Ergebnis rauskommen, das nicht nur einen selbst, sondern auch den Kunden zufriedenstellt - dafür wird man bezahlt. Dabei lernt man schnell, alle anderen Gedanken auszublenden. Ich setze mich mit meinen Kopfhörern an den Rechner und bin raus. Dann bin ich in meiner eigenen Welt und denke nur noch an die Aufgabe. Anders könnte ich das gar nicht. Ich schätze, so werde ich das weiterhin machen. Ich versuche, mich auf das zu konzentrieren, was gerade ansteht. Und was dann kommt, kommt.“  

Svenja Stoffers arbeitet als Kostümbildnerin – und als Mutter einer wunderbaren Tochter.
„Ich hätte wahrscheinlich vorher einiges anders machen müssen. Ich habe Friseurin gelernt, meinen Meister gemacht und bei einer internationalen Kette gearbeitet. Ich hatte mir vorgestellt, innerhalb der Firma herumzureisen, andere Städte und Länder kennenzulernen. Aber dann wurde ich schwanger und bekam meine Tochter. Das war eine Wende - aber das wurde mir eigentlich erst bewusst, als ich wieder anfing zu arbeiten. Als Alleinerziehende mit dem Gehalt eines Friseurs - das hört dann auf, Spaß zu machen. Man arbeitet sich ab wie verrückt und knapst trotzdem immer. Zum Glück hatte ich in meiner Elternzeit ein Praktikum bei einer Kostümbildnerin gemacht. Dadurch habe ich eine Halbtagsstelle in der Kostümabteilung einer Kreuzfahrtgesellschaft gefunden - und verdiene da heute fast das, was ich als Friseurin für 40 Stunden bekommen habe.“  

Philipp Gloeckler ist Gründer und Geschäftsführer von Avocadostore.de und Whyown.it.
„Alles ist anstrengender, als man es sich vorstellt. Ich glaube an Ideen und bin begeistert, aber bis eine Idee richtig umgesetzt wird, braucht es immer viel mehr Arbeit, als man vorher gedacht hat. Mein neuestes Projekt ist eine App, bei der Menschen sich Produkte ganz umkompliziert ausleihen können und somit Geld und Ressourcen sparen. Das Projekt heißt whyown.it - es ist ein Versuch, neues, grüneres Wirtschaften nach vorne zu bringen. Das ist mein Thema. Ich habe Wirtschaft studiert und nach dem Studium gedacht: Jetzt gebe ich mir die Zeit und versuche erst einmal, einen Unterschied zu machen und dabei Spaß zu haben. Ich habe die amerikanische Nachhaltigkeitsbewegung Carrotmob nach Deutschland gebracht, ein Eco-Fashion-Label gegründet, einen Online-Store und jetzt die App. Ich weiß, das sieht so aus, als bräuchte ich ständig Veränderung. Aber in Wahrheit ist es jedes Mal einfach wahnsinnig viel Arbeit. Man denkt immer, da kommt jetzt der große Erfolg, aber so ist es ja nicht. Es geht Schritt für Schritt. Und dann kommt was Neues.“

Text: Michalis-Pantelouris - Illustration: Joanna Swistowski

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