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Wenn Traurigsein zur Krankheit wird

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Marie geht es schlecht. Sie war schon immer eine Person, die ihre Sorgen mit anderen teilte und der man öfter Seitenhiebe à la "Jetzt hör mal auf zu jammern, so schlimm ist das gar nicht!" gab. Schlecht geht es immerhin jedem einmal. Bei ihr kamen die Gründe auch nicht aus dem Nichts: Es war der Endspurt ihres Studiums, damit kamen Stress und Zukunftsängste. Außerdem scheiterte ihre Fernbeziehung. Marie raucht wieder mehr, isst wenig und schläft schlecht. Tobias fehlt ihr, gestand sie einmal nach einer durchzechten Nacht.



So weit so normal. Nur: Es hört nicht mehr auf. Seit Monaten nicht. Es nervt sogar, wenn sie die immer gleichen Geschichten auspackt. Die meisten Freunde sind es schon Leid, ihr zuzuhören und sie aufzumuntern. Weil sie so problemfixiert ist, werden die Treffen mit ihr zunehmend unangenehm und anstrengend. Aber ihr Gejammere zu ignorieren wäre rücksichtslos.

Letzte Nacht rief Marie an: "Lass uns bitte abhauen. Nach Italien. Wir könnten einfach unsere Koffer packen uns als Kellner durchschlagen. Lass uns ans Meer", flehte sie. "Nein Marie, schlaf wieder. Es ist spät. Jetzt machst du erst mal dein Studium fertig. Dann können wir immer noch weg."

Dieser Anruf war nicht mehr 'normal' - aber was ist schon normal. Wie viele Aussetzer muss man haben, um sich wirklich verändert zu haben? Ab wann geht es einem nicht mehr nur mies, sondern krankhaft mies?

"Es gibt mehrere Anzeichen, die Alltagsklagen von Depressionen unterscheiden", sagt Prof. Ulrich Hegerl, der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Charakteristisch sei zum Beispiel die ständige Schuldsuche, und zwar nicht bei den äußeren Umständen, sondern bei sich selbst. Damit einher gehe auch eine große Hoffnungslosigkeit.

Außerdem ist der Übergang fließend. "Als Freundin oder Freund merkt man, dass sich der andere verändert. Wenn er vom bekannten Verhaltensrepertoire abweicht", so Professor Hegerl. Einen bestimmten Punkt gebe es aber nicht, und manche Menschen lassen sich in der Öffentlichkeit auch nichts anmerken. "Weiterhin ist typisch, dass schwer Depressive wie versteinert oder gefühllos wirken. Sie bewegt innerlich nichts mehr, kein Besuch von Freunden und keine Witze. Sie zeigen keine Anteilnahme an dem, was um sie herum geschieht", sagt Hegerl, "manche können auch gar nicht mehr weinen."

Aber, das betont Hergerl immer wieder, es geht hier um schwer Depressive. Bis dahin gibt es zahlreiche Abstufungen, bei denen man bereits einen Experten aufsuchen kann. Wenn der Betroffene zum Beispiel nicht mehr schlafen kann, stark abnimmt, auf Kleinigkeiten völlig übertrieben reagiert oder über einen längeren Zeitraum mit seinem Alltag nicht mehr zurecht kommt, sollten die Alarmglocken läuten.

Es ist schwer, den richtigen Zeitpunkt zu finden, um seine Vermutungen offen auszusprechen. Niemand ist gerne krank, schon gar nicht im Kopf. Und so selbstbewusste Menschen wie Marie erst recht nicht. Professor Hegerl schlägt vor, sich als Freund selbst Hilfe zu suchen, mit einem Arzt oder einer Beratungsstelle zu sprechen. Diese können eine erste Anlaufstelle sein und die Sorgen bestätigen oder zu weiteren Schritten raten.

Wie weit man als nur mittelbar Betroffener einschreiten darf oder sogar muss, sage einem der gesunde Menschenverstand, meint Hegerl: "Wenn sich jemand in Lebensgefahr befindet, weil er Suizidgedanken oder -pläne hat, muss man natürlich Hilfe holen." Wenn der Betroffene aber ansonsten ganz gut mit seinem Leben zurecht kommt und offensichtlich nur eine ausgeprägte Selbstmitleid-Phase hat, kann man ihm mit einem "Sei mal nicht so" Einhalt gebieten. Dann macht es keinen Sinn, gegen seinen Willen einzugreifen und einen Arzt zu holen. Jeder hat das Recht auf schlechte Stimmung, bis er selbst- oder fremdgefährdend wird. Das ist die Selbstbestimmtheit des Menschen.

Marie isst und lacht und weint noch. Und solange sie nicht selbst professionelle Hilfe will, müssen ihre Freunde wohl das Sturmtief abwarten - und mit ihr reden.


Text: vanessa-vu - Foto: benicce / photocase.com

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