Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Der Stationenansager

Text: irrgaertnerin

Nie klingt der Stationenansager der Wiener Linien trauriger als bei der Station “Hernalser Guertel”. Und ich frage mich, warum dem so ist, ob dies der Ort ist, an dem ihn seine erste große Liebe verlassen hat, ob dies der Ort ist, an dem er einen Anruf bekam und wusste, danach wird vieles nicht mehr gut, ob dies der Ort war, an dem er endgültig einsah, dass Schokoladeneis ihm Bauchschmerzen bereitete und er die letzte Kugel versuchte so langsam wie möglich zu essen, ob es hier war, als er vor vielen Jahren den schönsten Tag seines Lebens verbrachte und plötzlich feststellte, dass auch dieser vorbeigeht oder ob dies der Ort war, an dem eine Frau vor ihm über die Straße ging und der Wind durch ihr Haar fuhr und der Stationenansager für einen kurzen Moment von einer Sehnsucht ergriffen wurde, für die er niemals einen Namen fand.



Wie das wohl wäre, wenn der Stationenansager an manchen Haltestellen lachen würde, seine Stimme bei anderen weich werden würde und nur eine weiter ängstlicher und tief. Wie das wohl wäre, wenn man ein jedes Mal bevor die Station Herrengasse kommt, den Stationenansager seufzen hoeren würde und knapp vor dem Schottenring ein kurzes Räuspern erklingt, als hätte er sich gerade an etwas erinnert von dem er nicht will, dass es jemand bemerkt.



Ich stelle mir einen großen Plan mit all den Stationen an der Wohnzimmerwand des Stationenansagers vor, so wie im Zimmer des Kindes, das vor über zehn Jahren Thomas Gottschalk damit beeindruckte, dass es eine jede Haltestelle Berlins auswendig wusste. Der Stationenansager sitzt davor und steckt Nadeln in den Plan, an den Nadeln hängen kleine Zettel und auf den Zetteln steht nur ein Wort. Manchmal ist es ein Name, manchmal ein Tag, manchmal ein Gefühl und selten, aber doch steht dort nur ein Buchstabe mit einem Punkt dahinter oder einem Rufzeichen. Ein einziges Mal ist es ein Fragezeichen und der Stationenansager ärgert sich darüber, aber kann es auch nicht ändern.



Öffnet er die Fenster so tanzen die Zettel im Wind und manchmal verheddern sie sich und manchmal fallen sie zu Boden und der Stationenansager hebt sie dann langsam wieder auf und hängt sie zurück an den Plan, zu dem sich ihm nie jemand fragen traut, kommt Besuch vorbei und der später einmal im Wien Museum hängen sollte, wäre auf dieser Welt ein wenig mehr so, wie es sein sollte. Der Stationansager ist alt geworden, schon lange ist er das und wenn er selber in einer Straßenbahn oder einer Ubahn oder in einem Bus sitzt und sich selber dabei zuhört, wie er sich erzählt, wo er als nächstes sein wird, so schließt er immer die Augen und es erscheint ihm so, als würde die ganze Stadt ihm gehören. Das macht ihn wirklich froh.

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: