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Zu viel, zu wenig

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Die Briefe füllen zwei Ordner im Regal neben dem Schreibtisch. Vielleicht sind es 100, vielleicht 150. Irgendwann hat Jennifer auf­gehört, die Absagen zu zählen, die auf ihre Bewerbungen zurückkamen. „Es ist frustrierend“, sagt sie. Dabei sah alles bestens aus: Jennifer hat die Realschule abgeschlossen, Schnitt 2,4. Sie hat ein Praktikum in einem Blumenladen und bei einem Landschaftsgärtner gemacht, außerdem im Discounter gejobbt. „Ich kann sogar Spanisch“, sagt sie. Einen Ausbildungsplatz als Kauffrau hat sie dennoch nicht bekommen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



An der Berufsschule hat Jennifer dafür das Fachabitur gemacht. Jetzt, mit 21, ist sie zwar besser qualifiziert, aber die Ordner füllen sich weiter. Jennifers Ordner sind der Gegenbeweis zu den Erfolgsmeldungen vom Ausbildungsmarkt. Und nicht nur Jennifer sammelt Absagen: 76 700 junge Leute haben im vergangenen Jahr die Schule verlassen und keine Lehrstelle gefunden. Dazu kommen viele, die in der Statistik nicht mitgezählt werden, weil sie in Überbrückungskursen stecken, obwohl auch sie natürlich lieber in einem echten Betrieb lernen würden. Die Berliner Soziologieprofessorin und Ausbildungsforscherin Heike Solga schätzt, dass sogar 200 000 jungen Menschen in Deutschland ein Ausbildungsplatz fehlt. Und trotzdem blieben im letzten Jahr wieder 30 000 Lehrstellen frei – fünf Prozent mehr als im Vorjahr. „Es gibt eine wachsende Zahl unbesetzter Ausbildungsplätze und gleichzeitig immer noch viele Jugendliche, die suchen“, sagt Ausbildungsforscher Joachim Ulrich vom Bundesinstitut für Berufsbildung. „Und das wird sich wohl so schnell nicht ändern.“

Warum?

Die erste und einfachste Erklärung ist die Postleitzahl: Betriebe und Schulabgänger suchen einander nicht am selben Ort. In der Region um Herford in Ostwestfalen, wo Jennifer lebt, kommen auf 100 Ausbildungsbewerber gerade einmal 81 Stellenangebote. Fast nirgendwo sonst im Land ist das Verhältnis so ungünstig. Kein Wunder also, dass auch ehemalige Mitschüler von Jennifer sich mit Aushilfsjobs an der Supermarktkasse durchschlagen. Trotz Fachabitur.

Fünf Autostunden weiter, auf der Insel Rügen, überlegt Marina Raabe dagegen, woher sie noch Auszubildende nehmen soll. Sie ist Personalbeauftragte im Hotel IFA im Ostseebad Binz. Zwanzig Bewerbungen hat sie im letzten Jahr bekommen. Alle Bewerber hat sie zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Alle wollte sie einstellen. Die meisten sagten dann doch wieder ab, nur sieben unterschrieben den Lehrvertrag. Im Souterrain hat das Hotel sogar Lehrlingszimmer eingerichtet, denn aus der Region kommt kaum noch ein Azubi. „Man hat zwar immer davon gesprochen, dass der Geburtenknick kommt“, sagt Raabe. „Aber in dem Ausmaß? Damit habe ich nicht gerechnet.“

Nach der Wende brach in Ostdeutschland die Geburtenrate rapide ein. Wer vor zwanzig Jahren nicht zur Welt kam, kann heute keine Lehre machen. 3281 Ausbildungsplätze hatten die Betriebe der Arbeitsagentur gemeldet. Gerade 1970 junge Menschen wollten eine Ausbildung, zum Schluss blieben nur 24 von ihnen ohne Lehrstelle. Fast nirgendwo sonst macht sich der Geburtenrückgang so drastisch bemerkbar. Fast nirgendwo sonst kommen so wenige Bewerber auf so viele Lehrstellen wie im östlichen Mecklenburg-Vorpommern.

Aber es gibt noch einen Grund dafür, dass Marina Raabe kaum Auszubildende findet: Eine Lehre im Gastgewerbe ist unbeliebt. Auf 100 Ausbildungsplätze zum Restaurantfachmann oder zur Restaurantfachfrau kommen deutschlandweit gerade einmal 81 Bewerber. „Wir haben ein Imageproblem“, meint Raabe. Schuld daran sind die Arbeitszeiten: Wer will das Wochenende mit Kellnern oder an der Rezeption verbringen, während die Freunde um die Häuser ziehen? Schuld sind aber auch die Betriebe selbst, die es gewohnt sind, ihre Azubis als billige Arbeitskräfte zu missbrauchen: Im Ausbildungsreport des Deutschen Gewerkschaftsbundes rangieren Restaurant- und Hotelfachleute ganz unten – kaum eine Azubi-Gruppe ist so unzufrieden mit ihrer Arbeit. Im Forum der Gewerkschaftsjugend klagt eine angehende Hotelfachfrau, dass sie Straßen fegen und Schnee schippen muss. Die Ausbildungsbedingungen, das zeigt der Report, sind umso schlechter, je kleiner der Betrieb ist: Desto häufiger müssen Azubis Schnee schippen. Desto häufiger müssen sie mit anpacken wie eine volle Arbeitskraft, ohne jedoch wie eine bezahlt zu werden. Desto seltener hat jemand Zeit, ihnen das beizubringen, was wirklich zum Beruf gehört.
Es sind kleine Bäckereien, Metzgereien oder eben Restaurants, und die sind wiederum verhältnismäßig oft da, wo der Nachwuchs als Erstes fehlt. Auf dem Land. In der bayerischen Provinz. An der Ostsee in Mecklenburg-Vorpommern.

So verschärfen sich die Ungleichgewichte: Gerade kleine Betriebe auf dem Land müssen Bewerber einstellen, die sie vor ein paar Jahren nicht einmal zum Vorstellungsgespräch geladen hätten. Ausgerechnet die Betriebe, die ihre Azubis wie Arbeitskräfte einsetzen, bekommen nun Lehrlinge, um die sie sich wirklich kümmern müssten. „Die Förderung fällt gerade kleinen Betrieben schwer, weil sie die Azubis im Arbeitsprozess einsetzen“, sagt Soziologin Solga. Kein Wunder also, dass man Handwerksmeister und Hoteliers klagen hört, die Schulabgänger seien heutzutage nicht mehr „ausbildungsreif“ – die Betriebe mussten es selbst lange Zeit nicht sein.

Es gibt aber auch Betriebe, die nicht jammern, weil sie die freie Auswahl haben. Viele wollen Mediengestalter werden. Oder Tierpfleger im Zoo. Das war Florian Richters Traumberuf, seit er denken kann. Zu Hause in einer Kleinstadt in Franken hat er Vögel gezüchtet, darunter amerikanische Brieftauben und Bantam-Zwerghühner. „Vögel haben mich schon immer fasziniert“, sagt der 18-Jährige. „Man kann ihr Verhalten so gut beobachten.“

Vor knapp drei Jahren stieg Florian nachts um vier in den Zug, um zum Einstellungstest des Berliner Zoos zu fahren. Die Ausbilder wollten zum Beispiel von ihm wissen, wie er ein professionelles Futter für einen Kanarien­vogel zusammenmischen würde. Körner als Basis, relativ fett- und ölhaltig, schlug Florian fachmännisch vor, dazu etwas Grün. „Als die Zusage aus Berlin kam, da flossen schon Tränen bei mir.“

Tierpfleger ist nicht nur Florians Traum­beruf. Statistisch gesehen konkurrieren in Deutschland 100 Bewerber um gerade einmal 54 Plätze. Im Berliner Zoo gehen jeden Tag drei bis vier Bewerbungsschreiben ein, an die 1000 sind es im Jahr, die auf eine Handvoll Ausbildungsplätze kommen.

Aber es gibt noch eine weitere Erklärung dafür, warum so viele vergeblich eine Aus­bildung suchen, obwohl es freie Lehrstellen gibt. Man findet sie in der „Schönholzer Heide“, einem Ausbildungsrestaurant in Berlin-Pankow. Das Restaurant gibt es eigentlich nur, damit die Arbeitsagenturen dort jene unterbringen können, denen sie „Vermittlungshemmnisse“ bescheinigen. Es ist seltsam, dass es solche inszenierten Ausbildungen braucht, wo doch gerade das Gastgewerbe händeringend nach Lehrlingen sucht.

Nico ist 21 und einer derjenigen, die hier in der „Schönholzer Heide“ das Kellnern und Buffetanrichten üben. „Mir bleibt nichts anderes übrig“, sagt Nico, in abgeklärtem Berlinerisch. „Ohne Schulabschluss findeste nix. Du musst dich erst mal beweisen, aber du kommst ja nirgends rein.“

Es ist nicht so, dass Nico unmotiviert wäre. Nur irgendwie hat er auf dem Schulhof ein bisschen zu lange den Halbstarken gespielt, zu viele Kleinkriege mit den Lehrern ausgefochten. Er nahm das Handy mit in den Unter­richt, obwohl das verboten war, ließ sich die Schulordnung vorlesen, ließ sich Verweise schicken und blieb erst recht stur. In der neunten Klasse warf er hin. „Klar, war ’n bisschen blöd mit dem Abschluss.“ Weil er nach der Schule eine Weile am Hotdog-Stand eines Bekannten gejobbt hatte, schlug der Arbeitsvermittler ihm die „Schönholzer Heide“ vor.

Soziologin Solga hat die Befürchtung, dass Leute wie Nico dauerhaft abgehängt werden. „Haupt­schüler und Jugendliche ohne Abschluss haben extreme Schwierigkeiten“, sagt Solga. „Diese Jugendlichen werden bei der Bewerbung oft schon qua Schulabschluss aussortiert, selbst wenn die Stelle dann unbesetzt bleiben muss.“ Es ist wie ein Stempel, den man nicht wegbekommt: Das sind die, die es trotz Bildungsexpansion nicht geschafft haben.

Interessanterweise zeigen Untersuchungen aber, dass es nicht die fehlenden Kenntnisse im Bruchrechnen oder in der Rechtschreibung sind, die Betriebe zögern lassen. Schulwissen ist überraschend nachrangig. „Es geht mehr um Sozialtugenden“, sagt Solga. Wie motiviert ist einer? Wie zuverlässig? Von Hauptschülern erwarten die Betriebe von vornherein kaum etwas.

Deswegen hat Solga eine Idee: Schon Schüler sollen in den Jahren vor dem Abschluss jeweils ein paar Tage in der Woche in einem Unternehmen mitarbeiten. Damit die Firmen ihre Vorurteile abbauen können. Damit jemand nicht schon vor seinem Schulabschluss aufgibt.

„Im Moment“, sagt Solga, „ist unser ganzes System nicht ausbildungsreif.“

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