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Der getanzte Johan

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Vier Schritte vor und zurück, das geht. Kaum aber erhöht die grauhaarige Dame am Klavier den Takt, verpasse ich den Anschluss, tapse unförmige Sterne auf den hellbraunen Parkettboden. Die Vorhänge sind geschlossen, zum Glück. Da bin ich zurück an meiner ehemaligen Schule und stehe gleich in jenem Raum, den ich nie, nie wieder betreten wollte. Das Epizentrum meiner Waldorfschüler-Seele: der Eurythmie-Pavillon. Vor mehr als sechs Jahren schwebte ich letztmals unbeholfen durch diesen nach Holzwachs riechenden Saal, damals noch umhüllt von einem zartrosa Kittel. Nicht immer waren die Gardinen zugezogen wie heute. Und dann glotzten sie lachend von draußen herein, die Schüler der benachbarten Handelsschule. Granatenpeinlich. Egal wie sehr ich diese Erlebnisse auch zu verdrängen versuchte - sie blieben doch an mir haften. Seit ich 2005 an dieser kleinen, einzügigen Rudolf-Steiner-Schule Bergedorf, weit draußen im Osten Hamburgs, mein Abitur gemacht habe, ist einiges passiert. Ich habe studiert, in der Hamburger Innenstadt, in München, in Berlin. Eine Frage aber bin ich dabei nicht losgeworden: Kannst du deinen Namen tanzen? Wann immer ich erzähle, dass ich auf einer Waldorfschule war, kann ich mit ihr rechnen.

Dabei ist die Bewegungskunst, die Rudolf Steiner (1861-1925) für die von ihm gegründeten Schulen entwickelt hat, gar nicht mehr so exotisch: Fast jede zweite Frau, die ich kenne, verrenkt ihren Körper beim Yoga. Das ist der Eurythmie nicht unähnlich, so grundsätz-lich. Und überhaupt: Rudolf Steiners anthro-posophische Weltanschauungslehre hat zwar mystische, auch total abstruse Grundzüge, aber sie ziehen sich heute quer durch unsere Gesellschaft. In Supermärkten stehen biologisch-dynamische Demeter-Produkte zum Verkauf. Alternativ-anthroposophische Heilmethoden boomen. Und: Noch nie gab es in Deutschland so viele der so oft auf eine einzige Frage reduzierten Bildungseinrichtungen: Immerhin 84 000 „Waldis“ versammelten sich im vergangenen Schuljahr an 229 Rudolf-Steiner-Schulen. Ich war, als ich 1992 eingeschult wurde, noch einer von knapp 58 000 Steiner-Jüngern an nur 144 Schulen. Die Frage ist doch also eher, was Waldorf so attraktiv macht. Im Eurythmie-Pavillon laufe ich gemeinsam mit 16 pubertierenden Neuntklässlern eine verschachtelte Dreiecksform. Danach male ich mit ihnen zu einem Gedicht von Christian Morgenstern Vokale in die Luft. Anders als ich früher schlurfen die Schüler in weiten Skaterpullis und H & M-Tops durch den Saal. Wie unspirituell, denke ich, bin aber auch ein bisschen neidisch. Angeleitet werden wir von Ursula Rolke-Böer, 52, wallende schwarze Haare. „Paul, Hände aus der Tasche! Franziska, du stehst außerhalb deiner Form!“, ruft sie, auf einer schmalen Bank stehend.

Es sei schwer, Pubertierenden Eurythmie zu vermitteln, hatte mich Rolke-Böer schon vor der Stunde gewarnt. Wenig überraschend. „Es ist alles andere als cool, es ist warm, da der Mensch sich seelisch öffnen muss, und das ist in diesem Alter nicht einfach“, waren ihre Worte. Es gehe bei diesem „seelischen Turnen“ darum, die verschiedenen Elemente von Musik und Sprache – zum Beispiel Intervalle, Rhythmen, Vokale oder Konsonanten durch Bewegung sicht­bar zu machen. Der ganze Körper des Menschen singe und spreche. Dabei müssten die Schüler ein genaues Gefühl dafür entwickeln, wo im Raum sie sich befinden und wo die anderen stehen. Für Rolke-Böer steckt genau darin der zentrale Waldorf-Gedanke: „Wir wollen die Schüler aus einer Orientierungslosigkeit führen, ihnen begreifbar machen, wo ihre Fähigkeiten und wo ihr Platz in der Gesellschaft sind“, sagt sie. Der Mensch komme mit einem Impuls auf die Erde, man müsse ihm lediglich helfen, diesen selbst zu entdecken und auszuleben.

Die Steiner-Schulen geben Kindern anfangs viel Zeit und viel Freiraum, einen eigenen Weg zu finden. Kein Sitzenbleiben, keine Noten bis zur achten Klasse, intensive Betreuung durch einen Klassenlehrer in den ersten acht Schuljahren. Früh lernen die Schüler, ihre Hände zu gebrauchen. Geist und Körper sollen sich im Einklang miteinander entwickeln, so in etwa lautet der von Rudolf Steiner formulierte Anspruch. Während meiner Schulzeit in Bergedorf habe ich Strümpfe gestrickt, Getreide ausgesät und geerntet, ich habe Kupferschalen getrieben und ein kleines Lehmhaus gebaut. Und dazu viel Theater und viel Musik. Ich gebe zu, das war mir damals alles oft extrem unangenehm. Wenn ich etwa mit meinem Geigenkasten auf dem Rücken Freunden von anderen Schulen begegnet bin, die einen lässig herunterhängenden „East­pak“ geschultert hatten. Oder wenn ich ihnen erklären musste, warum ich mal wieder in verkrusteten Gummistiefeln unterwegs war. Heute aber denke ich nicht ohne Stolz an diesen Teil meiner Schulzeit zurück. 

Die ganzheitlich-musische Begleitung ihres Kindes scheint für immer mehr Eltern eine Option. Eine junge Mutter, mit der ich nach meiner Eurythmietrauma-Bewältigung auf dem Pausenhof spreche, erzählt mir, dass sie ihren Sohn an die Waldorfschule geschickt habe, weil sie befürchtete, er wäre anderswo „untergegangen“. „Er ist ein bisschen schwierig im sozialen Umgang, dahinter steckt aber eine lernbegierige, liebe Person“, sagt sie. Er könne sich, so glaubt sie, hier viel besser entfalten. Besonders groß ist der Andrang an der Bergedorfer Steiner-Schule derzeit in der vierten Stufe. Seit dem Sommer gibt es erstmals zwei Klassen eines Jahrgangs. Eltern des reformgeplagten staatlichen Hamburger Schulsystems entdecken die Waldorfschule für ihre Kinder.

Keine rechten Winkel, außen zartrosa und innen bemalt in allen Farben des goetheanischen Farbkreises. Unterm Dach eines quader­förmigen Neubaus, der neben den Rotklinker­bauten wirkt wie ein monströses Raumschiff, treffe ich meinen ehemaligen Musiklehrer Martin Sieveking. „Composing a song in 40 minutes“, das ist der Titel seiner heutigen Unterrichtsstunde. In drei Gruppen sitzen Teenager zusammen und erarbeiten eine Basslinie, einen Sprachrhythmus oder eine Mouth Percussion. Fünf Minuten vor Unterrichtsende ist Aufnahme. Jede Gruppe entsendet einen Vertreter ans Schlagzeug, ans Klavier oder ans Mikro. Hat einer der Zuhörer einen Verbesserungsvorschlag, kann er auf einen in der Mitte stehenden Stuhl klopfen und ihn vortragen. „Fishbowl-Prinzip“ nennt Sieveking das. Der 41-jährige Hamburger ist ein Wal­dorflehrer der neuen Generation. Immer mehr ältere, manchmal verkrampft an Steiners kruder Anthroposophie festhaltende Kollegen gehen in Pension. Es folgen neue, modernere. „Sie machen nicht mehr nur etwas, weil sie denken, es sei Waldorf“, sagt Sieveking, als wir nach dem Unterricht nebenan beim Bäcker einen Cappuccino trinken. Sie suchten verstärkt nach neuen pädagogischen Konzepten. „Es ist natürlich wichtig, fest in der Philosophie der Schule ver­wurzelt zu sein, aber man muss auch erkennen, dass sich die Zeiten verändert haben und sich deshalb auch der Unterricht verändern muss“, sagt Sieveking.

Bei allem Fortschritt, berichtet mein ehemaliger Musiklehrer, plage die Waldorfschule aber nach wie vor ein Problem: Obwohl man an der Freien Hochschule Stuttgart mittlerweile einen Waldorf-Master erwerben kann, sei es besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern schwer, fachlich und zugleich pädagogisch gut geschultes Personal für die Mitarbeit zu gewinnen. Eine Crux, die ich an mir selbst schmerzlich spüre, wenn ich vor den einfachsten Matheaufgaben kapitulieren muss. Na ja – dafür kann ich meinen Namen tanzen.


Text: johan-dehoust - Foto: Kathrin Spirk

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