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Von wegen Erfolg! Eine persönliche Anmerkung zum "Bufdi"

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Vor knapp einem Jahr habe ich meinen Entlassungsbrief aus dem Zivildienst erhalten. Über mehrere Monate hinweg habe ich in der 8. Klasse einer Förderschule mit den Förderschwerpunkten körperliche und motorische Entwicklung meinen Ersatzdienst abgeleistet. Morgens die schwerstbehinderten Schüler am Bus abholen, sie im Unterricht begleiten, das Essen anreichen, mit ihnen auf die Toilette gehen, sie zur Therapie begleiten, im Sport gemeinsam über die Matte wälzen – für die beiden Schüler, die im Rollstuhl sitzen und nicht sprechen können, bin ich linke und rechte Hand zugleich gewesen, habe ihnen meine Stimme geliehen, war Helfer und bester Kumpel zugleich.
 
Nach meinem Weggang gibt es bis heute keinen Ersatz für diese Tätigkeiten. Zunächst überbrückte man mit Praktikanten von der Universität, die jedoch nur wenige Wochen an der Schule waren. Im neuen Schuljahr wurden dann die Bundesfreiwilligendienstler eingeteilt.
 
Und schon erwiesen sich die „Erfolgszahlen“ auf dem Papier als Problem in der Praxis: Da sich erwartungsgemäß viel mehr Frauen als Männer auf die Bufdi-Stellen beworben haben, können die männlichen Freiwilligen nicht allein in einer Klasse tätig sein und alle oben aufgeführten Aufgaben übernehmen. Sie müssen stattdessen mehrere Schülern aus anderen Klassen ebenfalls intim pflegen. Denn sich mitten in der Pubertät von einer Frau wickeln zu lassen – auch für einen behinderten Schüler zu Recht unvorstellbar! Ein persönlicher Kontakt und ein intensives Vertrauen zwsichen dem Bufdi und dem jeweiligen Schüler kann allein bei Toilettengängen nur selten entstehen.
 
Die Aufhebung der Wehrpflicht und damit auch des Ersatzdienstes wird noch weiter reichen: durch den Zivildienst haben junge Männer soziale Berufe kennen gelernt, die viele von ihnen heute freiwillig nicht mehr wählen werden. Nicht nur ich, sondern fast alle meiner Kommilitonen haben nicht zuletzt über den Zivildienst den Studiengang „Sonderpädagogik auf Lehramt“ entdeckt. Männliche Studenten der Sonderpädagogik und spätere Förderschullehrer wird es damit erwartungsgemäß immer weniger geben. Den späteren männlichen Förderschülern fehlen damit Respekts- und Orientierungspersonen.
 
Die schwerstbehinderten Schülerinnen und Schüler haben außerhalb der Schule meist keinen Freundeskreis. Da Förderschulen einen sehr weiten Einzugsbereich haben und die Schülerinnen und Schüler nicht selbstständig mobil sein können, wird auch der Besuch von Schulfreunden erschwert. Für sie sind wir Zivildienstleistenden daher oftmals die einzigen gleichaltrigen Ansprechpartner gewesen. An uns konnte man sich ähnlich wie an einem älteren Bruder orientieren, mit uns einmal einen Scherz machen, sich auch einmal über Kino oder Musik unterhalten. Denn wer nicht sprechen kann, hat trotzdem viel zu sagen. Wir waren mehr Kumpel und weniger Onkel. Ein Grund, warum die Öffnung des Bundesfreiwilligendienstes für alle Altersstufen dem Einsatz an Förderschulen wenig genutzt hat.
 
Selbstverständlich gibt es auch Pflegetätigkeiten für ältere Menschen. Dort mag es sicherlich sinnvoll sein, auch annähernd gleichaltrige Freiwillige einzusetzen. Ohne älteren Mitmenschen solche Fähigkeiten absprechen zu wollen – aber sind dort die jungen Menschen vielleicht nicht auch für die Unterhaltung, die Lockerheit, die Spontaneität und manchmal gar für den Enkel-Ersatz zuständig?
 
Die Bundesregierung meldet, die 35.000-Marke an Bundesfreiwilligendienstlern fast erreicht zu haben. Bis vor einem Jahr hat es noch über 90.000 Zivildienstleistende gegeben. Eine große Lücke wird schnell sichtbar. War das Ziel also nicht von Anfang an viel zu niedrig gesteckt? An meiner ehemaligen Zivi-Schule wurden zudem FSJ-Stellen in Bufdi-Stellen umgewandelt. Dies mögen auch Mittel sein, Zahlen für das Prestige-Projekt Bundesfreiwilligendienst zu erfüllen.
 
Das Gehalt der Bufdis wurde nicht an das besser gestellte Entgelt im Zivildienst, sondern an den FSJ-Lohn angepasst. Wie viel ist unserer Gesellschaft die Pflege von behinderten oder pflegebedürftigen Menschen überhaupt wert?
 
Unweigerlich muss ich auch die Frage stellen: Wo sind Stellen gekürzt worden? Hätte man im Rahmen der drastischen Stellenreduzierung vielleicht eine Prioritäten-Liste erstellen müssen, hätte man nicht sogar den Bundesfreiwilligendienst auf Hilfs- und Pflegedienste für besonders bedürftige Menschen beschränken müssen? Polemisch gefragt: Ist es nicht wichtiger, einem behinderten Schüler oder einer pflegebedürftigen Person zur Seite zu stehen statt einer Naturfreunde-Organisation eine Bürokraft zu stellen?
 
Die Einsatzbereiche sind die eine Seite des Problems, die jeweiligen Bewerber sind die andere Seite. Auf Grund der Verkürzung von 90.000 auf 35.000 Helfer muss de facto jeder Freiwillige eingestellt werden. Eine Überlegung, welcher Bufdi zu welchem Schüler überhaupt passt, ist nur schwer möglich.
 
Und die Schüler sind es, die den „Erfolg“ der Politik spüren. Viele können nicht einmal bis zehn zählen. Aber sie merken: 32.000 Freiwillige soll es geben, nur mir fehlt gerade einer.

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