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Frau Bundeskanzler sucht 'ne Art Vision

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Reden wir mal nicht über Christian Wulff, reden wir über Angela Merkel. Die vergisst man so leicht, wenn sie nicht gerade den Euro durch Europa rollt oder zeigt, wie pragmatisch sie sein kann. Das ist dann auch gleich der Punkt, an dem sie immer und immer kritisiert wird: Angela Merkel ist arschpragmatisch. Sie ist keine Visionärin, sie hat keine Lust auf große Linien, dicke Worte, weiten Horizont. Zumindest denkt man das immer. Privat und wenn sie frei reden kann, sagen Journalisten, die sie kennen: Da packt sie aus. Da ist sie lustig und zeigt, dass sie sehr wohl eine Idee davon hat, was man aus der Welt und aus Deutschland machen könnte. Wenn man wollte. Aber Angela Merkel scheint immer nicht so recht zu wollen. Seit Jahren warten zumindest Beobachter auf eine Art Schub, auf ein großes Wort, halt auf eine Rede, an der man sich länger als nur fünf Minuten festhalten kann. Eine Rede, in der vielleicht auch ein bisschen Pathos schimmert und in der Deutschland zumindest gedanklich mit ein paar Farben angemalt wird, die man noch nie gesehen hat.

Dropping the bass: Angela Merkel bei der Neujahrsansprache.

Wenn Skeptiker die Klage über die angeblich visionsfreie Angela Merkel hören, zitieren sie sofort Helmut Schmidt, den quarzenden und bisweilen siebengescheiten Altbundeskanzler. Er hat mal gesagt: Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen. Nun ja, das kann man so sagen. Hängt davon ab, was man von Politik erwartet. Viele erwarten von Politikern nicht nur handwerkliche Höchstleistung, sondern auch ein paar Ideen dazu, wie man das Leben langfristig aufs Gleis setzen sollte. Nur weil man ein paar große Linien in den Sand der Zukunft zeichnet, heißt das ja nicht, dass man sofort abgewählt wird, oder?

In der Neujahrsansprache hat Angela Merkel zum ersten Mal angedeutet, dass sich dieses Jahr was tun wird. Es soll zwar nicht gleich eine Vision geben, in den Ruch wird die Bundeskanzlerin wohl Zeit ihres Lebens nicht kommen. Aber es soll ein paar Ideen für das Land geben. Merkel sagte laut Redetext: „Blicken wir einen Moment gemeinsam in die Zukunft: Wie wollen wir zusammenleben und denen helfen, die noch am Rande stehen? Wie sichern wir unseren Wohlstand? Wie lernen wir als Gesellschaft? Zu diesen Fragen habe ich mit über 100 Experten einen Dialog über Deutschlands Zukunft begonnen, und dazu möchte ich auch mit Ihnen ins Gespräch kommen. Ab Februar können Sie im Internet mit diskutieren und Vorschläge einbringen. Ich lade Sie alle ein: Machen Sie mit.“

Tatsächlich bastelt Merkel wohl seit Sommer 2011 an ihrer Vorstellung von einer Vision: Sie hat sich schon zweimal mit wichtigen Menschen aus Gesellschaft, Wirtschaft und, klaro, aus der Wissenschaft getroffen, um darüber zu reden, wie das Land in fünf, zehn oder mehr Jahren aussehen kann. Der stern-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges weiß ein bisschen mehr als andere und schrieb neulich: „Dahinter verbirgt sich ein ziemlich dickes Ding - eines, das es noch nicht gegeben hat und das im Verborgenen vorbereitet wurde, ohne Beteiligung der Medien.“ Laut Jörges hat neben vielen anderen der Altersforscher Andreas Kruse mit Merkel gesprochen und auch der Mitgründer von betterplace.org, Stephan Breidenbach. Wirklich offiziell ist noch nichts zu der Aktion, die sich recht unsportlich „Dialog über Deutschlands Zukunft“ nennt. Im Februar soll eine Plattform online gehen, auf der auch Bürger sich an der Beantwortung der richtig großen Fragen beteiligen können. Es soll um das Zusammenleben der Generationen gehen, um die Wirtschaftskrise und was wir aus ihr lernen, um Bildung, um die Energie der Zukunft oder darum, wie wir künftig arbeiten wollen. Einige Gedanken will die Kanzlerin dann bei öffentlichen Diskussionen mit je 100 Bürgern wahrscheinlich in den Städten Heidelberg, Bielefeld und Erfurt erörtern, die, so der Gedanke, für das „typische Deutschland“ stehen sollen.

 

Niemand weiß, wie ernst die Kanzlerin die Ergebnisse nehmen will, die aus den Gesprächen mit den Forschern, auf der Internetplattform und bei den Diskussionen zusammenkommen. Im besten Fall gibt es wahrscheinlich ein kleines Kompendium mit den nettesten Ideen und die Absichtserklärung, dass man sich dieses Kompendium immer mal wieder ansehen werde. Im schlechten Fall gibt es das Kompendium und nicht mal eine Erklärung. Im schlechtesten Fall ist das Ganze nur wieder eine pragmatische Aktion von Angela Merkel, die sich vielleicht denkt: Hm, die wollen immer Ideen und Visionen von mir. Tu ich mal so, als würde ich mir welche suchen.

 

Nehmen wir hier einmal die allerbeste aller Möglichkeiten an und tun deshalb auch noch so, als könnten die Ideen wirklich das Land verändern: Welche drei Dinge würdest du der Kanzlerin in Bielefeld oder Heidelberg oder Erfurt vorschlagen?

 
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